Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
ungünstiger Herbst sich negativ auf sie auswirken konnte – Wetterverhältnisse, die beispielsweise Weizenernten vernichten. In kriegsgebeutelten Gebieten konnten Kartoffeln monatelang im Boden gelassen werden, weshalb sie von Soldaten auf Nahrungssuche nicht so leicht zu stehlen waren. Damals marschierten Heere nicht mit Proviantvorräten, sondern holten sich ihre Verpflegung, meist gewaltsam, von den örtlichen Bauern. Die Landwirte, die Young interviewte, verwendeten ihre Kartoffeln größtenteils als Tierfutter. Früher hatten sie in schlechten Jahren entscheiden müssen, ob sie ihre Tiere oder sich selbst ernähren wollten. Jetzt blieb ihnen diese Wahl erspart. [430]
Der Nationalökonom Adam Smith, der einige Jahre nach Young schrieb, war genauso fasziniert von der Kartoffel. Ihn beeindruckte, dass die Iren ungewöhnlich gesund blieben, obwohl sie kaum etwas anderes aßen: «Sänften-, Gepäck- und Kohlenträger in London und jene unglücklichen Frauen, die von der Prostitution leben, vielleicht die kräftigsten Männer und die schönsten Frauen im ganzen britischen Königreich, sollen großenteils aus der untersten Volksschicht Irlands stammen, die sich gewöhnlich von Kartoffeln ernährt.» Heute wissen wir, warum: Bei ausschließlicher Ernährung ist die Kartoffel besser als jedes andere Nahrungsmittel zum Lebenserhalt geeignet. Sie besitzt alle notwendigen Nährstoffe, ausgenommen die Vitamine A und D, die durch Milch zugeführt werden können. Tatsächlich bestand zu Adam Smiths Lebzeiten die Ernährung der armen Bevölkerungsschichten in Irland überwiegend aus Kartoffeln und Milch. Und die Armut war in Irland weit verbreitet; England hatte es im 17 . Jahrhundert erobert und einen Großteil des besten Grund und Bodens seinen eigenen Landsleuten zugeschanzt. Viele Iren waren gezwungen, sich als eine Art Pächter durchzuschlagen, die für ihre Arbeit mit der Erlaubnis bezahlt wurden, kleine Parzellen von Feuchtgebieten für den eigenen Bedarf zu bewirtschaften. Da auf diesem dürftigen Boden kaum etwas anderes wuchs als Kartoffeln, gehörten irische Kleinpächter zu den ärmsten Menschen Europas. Gleichzeitig zählten sie dank der Kartoffeln zu den bestgenährten. Daraus zog Smith einen logischen Schluss: Sollten die Kartoffeln «jemals zur bevorzugten Massennahrung werden, so, wie der Reis in einzelnen Ländern … würde man mit der gleichen Nutzfläche weit mehr Menschen ernähren können». Die unausweichliche Folge nach Smith: «Die Bevölkerung würde wachsen.» [431]
Smith hatte recht. Zur gleichen Zeit, da Süßkartoffeln und Mais zu einem Bevölkerungsboom in China führten, löste die Kartoffel eine ähnliche Entwicklung in Europa aus: je mehr Kartoffeln, desto mehr Menschen – der weltweite Bevölkerungsanstieg war Anzeichen und Wirkung des beginnenden Homogenozäns. In dem Jahrhundert nach Einführung der Kartoffel kam es ungefähr zu einer Verdoppelung der Bevölkerungszahlen in Europa. Die Iren, die mehr Kartoffeln aßen als irgendein anderes Volk, verzeichneten den größten Anstieg; von etwa 1 , 5 Millionen Anfang 1600 stieg ihre Zahl binnen zwei Jahrhunderten auf rund 8 , 5 Millionen an. Nach anderen Schätzungen waren es sogar neun oder zehn Millionen. Diese Bevölkerungszunahme lag nicht daran, dass Kartoffelesser mehr Kinder bekamen, sondern dass ihre Kinder in größerer Zahl überlebten. Teils hatte das einen direkten Grund: Kartoffeln schützten vor dem Verhungern, teils einen indirekten: besser ernährte Menschen waren weniger gefährdet durch Infektionskrankheiten – die häufigste Todesursache in dieser Zeit. Ein gutes Beispiel ist Norwegen: Das kalte Klima hatte es lange Zeit für Hungersnöte anfällig gemacht, die landesweit in den Jahren 1742 , 1762 , 1773 , 1785 und 1809 gewütet hatten. Dann kam die Kartoffel. Die durchschnittliche Sterberate veränderte sich kaum, aber die großen Ausschläge verschwanden. Damit stiegen auch die norwegischen Bevölkerungszahlen. [432]
Überall auf dem Kontinent wurden solche Geschichten festgehalten. Viele Bergdörfer in der Schweiz, die unter den kürzeren Vegetationsperioden während der Kleinen Eiszeit sehr zu leiden hatten, wurden durch die Kartoffel gerettet – mehr noch, sie erlebten einen regelrechten Aufschwung. Als Sachsen 1815 den größten Teil seiner Ackerflächen an Preußen verlor, füllten sich seine Städte mit Flüchtlingen. Um dieses Ansturms Herr zu werden, pflügten die Bauern ihren Weizen und Roggen
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