Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
dass viele Chemiker keine Lust hatten, sich damit zu beschäftigen.»
Die zweite Hälfte des 19 . Jahrhunderts war eine aufregende Zeit für die Chemie. Die Forscher entschlüsselten die Ordnung, die der physikalischen Welt zugrunde liegt. Sie gliederten die chemischen Elemente in das Periodensystem ein, entdeckten, nach welchen Regeln sich die Atome zu Molekülen verbinden, und brachten in Erfahrung, dass Moleküle regelmäßige Kristalle bilden können, deren Strukturen sich genau ermitteln lassen.
Nirgendwo in diesem logisch geordneten System war Platz für Kautschuk. Zu Kristallen ließ er sich nicht anordnen. Schlimmer noch, in vielen chemischen Standardtests ergaben sich bei Kautschuk unsinnige Ergebnisse. Wie sich in Analysen zeigte, besteht jedes Kautschukmolekül aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen. So weit kein Problem. Doch sie ließen auch erkennen, dass die Kohlenstoff- und Wasserstoffatome sich zu riesenhaften Molekülen aufbauten, die aus bis zu Zehntausenden von Atomen bestanden. Die meisten Chemiker fanden das absurd – Moleküle sind die Grundbausteine chemischer Verbindungen, und nach ihrer Auffassung konnte kein Grundbaustein so groß sein.
Der naheliegende Schluss sei, so sagten die Chemiker, dass es sich beim Kautschuk um ein Kolloid handle: eine oder mehrere Verbindungen fein zermahlen und in anderen Verbindungen verteilt. Leim ist ein Kolloid, Erdnussbutter, Frühstücksspeck und Schlamm. Da Kolloide nicht eine einzige Substanz sind, sondern eine Mischung aus vielen verschiedenen Stoffen, haben sie keine Grundbausteine. Nach einem einzigen zu suchen, hieße, nach den molekularen Bausteinen eines Müllhaufens Ausschau zu halten. Die Chemie des Kautschuks sei, so höhnte ein deutscher Forscher, «Schmierenchemie». Gemeint sei, erklärte mir Coughlin, «die Chemie des Schleims am Boden eines Reagenzglases».
Trotzdem setzten sich einige Chemiker über die Verachtung ihrer Kollegen für den Kautschuk hinweg. Der bekannteste unter ihnen war Hermann Staudinger von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, der bereits die chemischen Formeln für die wichtigsten Aromen im Kaffee und Pfeffer entdeckt hatte – man kann ihm durchaus vorwerfen, der Welt den Pulverkaffee eingebrockt zu haben. Irgendwann während des Ersten Weltkriegs stieg Staudinger in den vollkommen anderen Bereich des Kautschuks ein, weil er der intuitiven Überzeugung war, «hochmolekulare Verbindungen», wie er sie nannte, hätten durchaus Grundbausteine, und zwar in Gestalt unglaublich großer Moleküle. Leser, die mit Geschichten über erfolgreiche wissenschaftliche Einzelgänger vertraut sind, werden nicht überrascht sein, zu hören, dass Staudinger auf heftigen Widerspruch stieß, dass er Beweis um Beweis für seine Hypothese vorlegte und dass der Widerstand irrational und bösartig wurde. Als er Zürich 1925 verließ, um seine Arbeit an der Universität Freiburg fortzusetzen, wurde er während seiner Abschiedsvorlesung öffentlich angegriffen. Vermutlich war die Gegnerschaft so erbittert, weil Staudinger die Neigung hatte, keinem Streit aus dem Weg zu gehen. Einmal begrüßte er das gerade erschienene Buch eines Konkurrenten, indem er auf das Exemplar der Universitätsbibliothek einen Zettel klebte und darauf schrieb, das Buch sei keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine Propagandaschrift. Am Ende fand das wissenschaftliche Drama Staudingers seine Lösung am üblichen Ort: in Stockholm, wo er 1953 den Nobelpreis für Chemie erhielt.
Kautschuk und andere Elastomere haben, wie Staudinger zeigte, Moleküle in Form langer Ketten. [34] «Lang» ist ein zutreffendes Adjektiv: Wenn ein Kautschukmolekül so dick wie ein Bleistift wäre, hätte es die Länge eines Fußballfeldes. Auch «Kette» stimmt: Alle Kautschukmoleküle weisen Zehntausende identische, repetitive Glieder auf, deren jedes aus fünf Kohlenstoff- und acht Wasserstoffatomen besteht. Die Moleküle gewöhnlicher Feststoffe – sagen wir, das Kupfer in einem Kabel – sind gewöhnlich regelmäßig angeordnet. Kautschukmoleküle dagegen bilden ein totales Durcheinander, ihre Ketten sind ohne erkennbares Muster wild ineinander verschlungen. «Der klassische Vergleich ist eine Schüssel Spaghetti», so Coughlin. «Aber in Wahrheit stimmt der Vergleich nur, wenn Sie hinzufügen, dass die Nudeln dreißig Meter lang sind.» Die Dehnung eines Kautschuk- oder Gummibands zieht die verknäulten Moleküle auseinander, sodass sie sich geradlinig
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