Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
Experimente durch. Schließlich erkannte auch er, dass sich Kautschuk, wenn er in geschmolzenen Schwefel getaucht wurde, in ein Material verwandelte, das bei Kälte elastisch und bei Wärme fest blieb. Später nannte er den Prozess nach dem römischen Gott des Feuers «Vulkanisierung». Am 21 . Mai 1844 erhielt Hancock ein Patent auf das Verfahren.
Schwer lässt sich entscheiden, wer denn nun die Vulkanisierung tatsächlich erfunden hat, die aus Naturkautschuk das industriell nutzbare Gummi macht. Charles Goodyear hatte die Grundidee, verstand den Prozess aber nie wirklich; Thomas Hancock ließ sich den Prozess vor Goodyear patentieren und verstand ihn besser, hat aber vermutlich den Anstoß beim Anblick früher Proben von Goodyear bekommen.
Drei Wochen später erteilte die zuständige US -Behörde Goodyear sein Vulkanisierungspatent. Ein Blick in das Dokument zeigt, dass Goodyear den Prozess nie ganz verstand. So behauptete er, Bleiweiß, ein Pigment auf Metallbasis, sei ein entscheidendes Ingrediens. E. Bryan Coughlin vom Silvio O. Conte National Center for Polymer Research an der University of Massachusetts meint jedoch, dass der Einfluss von Bleiweiß auf die Stabilität von Gummi «allenfalls sekundär» sei. «Ich bin mir nicht sicher, denn es ist kein Standverfahren – vielleicht wirkt es als Katalysator.» Im Gegensatz dazu sei Hancocks Patent «ziemlich zutreffend». Hancock rührte weichen Kautschuk in Schwefel, der auf 115 bis 120 Grad Celsius, also knapp über dem Schmelzpunkt, erhitzt war. Je länger er ihn der Wärme aussetzte, desto mehr Elastizität ging ihm verloren. «Das ist weitgehend das, was ich meine Studenten lehre», sagte Coughlin. [501]
Zwar verstand Goodyear den Prozess des Vulkanisierens nicht, wohl aber, dass sich ihm endlich eine geschäftliche Möglichkeit bot. Er zeigte einen unvermuteten Sinn für originelle Werbemaßnahmen und investierte 30 000 Dollar, die er nicht hatte, um im Kristallpalast der ersten Weltausstellung 1851 in London ein vollkommen aus Gummi bestehendes Zimmer zu präsentieren. Vier Jahre später lieh er sich 50 000 Dollar, um ein noch aufwendigeres Gummizimmer für die zweite Weltausstellung in Paris zu schaffen. Die Pariser verloren ihre städtische Blasiertheit und staunten wie Kinder über Goodyears Gummitoilettentisch einschließlich eines in Gummi gerahmten Spiegels; auf dem Tisch lag eine ganze Batterie von Gummikämmen und Bürsten mit Gummigriffen. Mitten auf dem Gummiboden stand ein Hartgummipult mit einem eingelassenen Tintenfass aus Gummi und Gummifederhaltern. Gummiregenschirme standen in einem Gummischirmständer in einer Ecke, die von zwei Gummiwänden gebildet wurde, beide mit Gemälden auf Gummigrund geschmückt. Für Waffenliebhaber gab es einen Ständer mit Messern in Gummifutteralen, Schwertern in Gummischeiden und Gewehren mit Gummischäften. Abgesehen von dem unangenehmen Gummigeruch war Goodyears Ausstellung ein Triumph. «Napoleon III . ernannte ihn zum Ritter der Ehrenlegion», schrieb der Diplomat und Historiker Austin Coates, «und ein Pariser Gericht schickte ihn ins Schuldgefängnis.» Er bekam den Orden in der Zelle. Goodyear sah sich gezwungen, den Besitz seiner Frau zu verkaufen, um die Heimreise bezahlen zu können. Vier Jahre später starb er, immer noch tief verschuldet.
Im Nachhinein wurde Goodyear von den Amerikanern als Visionär gefeiert. In Büchern stellte man ihn Kindern als das Vorbild eines Selfmademans dar; eine große Reifenfirma nannte sich nach ihm. Währenddessen, so Coates, «erhielt Hancock die englische Behandlung: gebührende Achtung zu Lebzeiten, schwindendes Interesse nach seinem Tod und zu dessen hundertstem Jahrestag eine Briefmarke». [502]
Weder Goodyear noch Hancock hatten die geringste Ahnung, warum Schwefel den Kautschuk stabilisiert – genauso wenig, woher die Rückprallfähigkeit und die elastische Verformbarkeit des Naturkautschuks stammen. Die Naturwissenschaftler des 19 . Jahrhunderts fanden abprallende Bälle genauso rätselhaft wie die Menschen des 16 . Jahrhunderts. Streckt man einen dünnen Eisenreifen, dehnt er sich ein wenig und zerbricht in zwei Teile. Ein Gummiband dagegen lässt sich zum Dreifachen seiner Länge dehnen und kehrt dann zu seiner ursprünglichen Form zurück. Warum? Und warum verhindert der Schwefel, dass Gummi im Sommer schmilzt? «Niemand wusste es», schrieb Coughlin mir. «Es war ein großes Rätsel. Überdies wurde seine Lösung dadurch erschwert,
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