Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
dienten, den nicht allzu wählerischen Appetit der kannibalischen Parentintin zu stillen». Diese indigenen Nachbarn hielten sich potenzielle Kolonisten vom Leibe, indem sie ihren Ruf als blutrünstiges Volk pflegten.
In gewisser Weise war die Flucht der Arbeiter auch ein Segen: Der Expedition wurde die Nahrung knapp. Wie die Jamestown-Kolonisten hungerte die Mannschaft meines Vorfahren inmitten des Überflusses. Gut zehn Jahre zuvor hatte der deutsche Ingenieur Franz Keller die Stromschnellen des Madeira mit einem Team von Mojos-Indianern vermessen, die sich so regelmäßig an Schildkröten gütlich taten, dass er über die Eintönigkeit meckerte; Keller zog den Arapaima vor, einen Knochenzüngler, der so groß ist, dass die Amazonier regelmäßig riesige Arapaima-Steaks auf den Grill werfen, und die amazonische Seekuh, einen unförmigen Wassersäuger, von dem er schreibt: «Sein zartes, dem des Schweins zu vergleichendes Fleisch ist ein stets gesuchter Artikel und gehört jedenfalls zu den Leckerbissen jener Regionen.»
Die Gleisbaumannschaft hungerte also, obwohl es Nahrung in Hülle und Fülle gab. Die Agrargenetiker vertreten schon lange die Auffassung, das Gebiet um die Eisenbahnlinie – das brasilianisch-bolivianische Grenzgebiet – sei die Heimat der Erdnuss, der brasilianischen Riesenbohne,
Canavalia plagiosperma
, und zweier Chili-Arten,
Capsicum baccatum
und
C. pubescens
. Doch in jüngerer Zeit sind vermehrt Belege aufgetaucht, dass in diesem Gebiet auch die Domestizierung anderer Pflanzen stattgefunden hat: des Tabaks, des Kakaos, der Pfirsichpalme,
Bactris gasipaes
, eines wichtigen amazonischen Nutzbaums, und, vor allem, von Maniok,
Manihot esculenta
, auch als Cassava oder Yuca bezeichnet, weltweit eines der wichtigsten Nahrungsmittel. Mein Vorfahr wäre fast in einem der landwirtschaftlichen Kerngebiete unserer Erde verhungert. [508]
Erst nach fünf Monaten der Not lernte Craig von einem Ortsansässigen, nicht im Hauptbett zu angeln, wie es die Nordamerikaner taten, sondern in einem der kleineren Nebenflüsse, und keine Haken und Schnüre zu verwenden, auf die die amazonischen Fische selten ansprechen, sondern, wie die Indianer, die Wasseroberfläche mit einer lähmenden Flüssigkeit zu besprühen, die aus Bäumen der Gattung
Strychnos
gewonnen wurde – der Name lässt auf das verwendete Gift schließen. Vorübergehend außerstande zu atmen, wurden die Fische an die Oberfläche getrieben und in Körbe geschöpft. [509] Craigs Leute legten die Angeln beiseite und lernten, Gift zu mischen. Sie stellten alle Versuche ein, in ihren Gärten Erbsen und Karotten anzubauen, und verzehrten stattdessen Palmfrüchte und Maniok.
Zum Scheitern gebracht wurde das gewagte Unternehmen aber schließlich durch die Malaria.
Plasmodium
, das im 17 . Jahrhundert wahrscheinlich von afrikanischen Sklaven an der Küste eingeschleppt wurde, verwandelte das Amazonasbecken nach und nach in viele vom Fieber entvölkerte Täler, die nur wenige Fremde zu betreten wagten – hier nehme ich die Geschichte wieder auf, die ich in Kapitel 3 begonnen habe. Die Vulkanisierung brachte die Menschen zurück. Schlagartig entwickelten die europäische und die amerikanische Industrie einen ungeheuren Bedarf an Kautschuk. Der stammte anfangs überwiegend von der Mündung des Amazonas in der Nähe der Hafenstadt Belém do Pará. Jeder Kautschukbaum brachte ungefähr dreißig Gramm pro Tag, konnte aber nur an hundert bis hundertvierzig Tagen im Jahr angezapft werden und brauchte alle paar Jahre Erholung. Angesichts der wachsenden Nachfrage verlangten Beléms Kautschukzapfer ihren Bäumen so viel ab, dass sie oft abstarben. [510] Dann wurde die gesamte Nordostküste in den Jahren 1877 bis 1879 von einer entsetzlichen Trockenheit heimgesucht. Etwa eine halbe Million Menschen starben. Die hungernden Bewohner des Hinterlandes –
flagelados
, die «Gegeißelten», wurden sie genannt – ließen ihre verdorrten Felder und versiegten Kautschukbäume im Stich, entflohen Cholera, Pocken, Tuberkulose, Malaria, Gelbfieber und Beriberi und begaben sich zu Zehntausenden auf den neuen Dampfern stromaufwärts, in der Hoffnung, dort ihren Lebensunterhalt mit dem Kautschuk bestreiten zu können. Wer ein wenig Geld oder politischen Einfluss hatte, bekam von den örtlichen Behördenvertretern Land zugeteilt oder Konzessionen; wer nur seinen Ehrgeiz oder seine Skrupellosigkeit hatte, suchte nach noch nicht angezapften
H. brasiliensis
und gründete
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