Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)
einen Betrieb. Auf diese Weise entstanden fast 25 000 meist kleinere Unternehmen, schätzt der brasilianische Historiker Roberto Santos, die insgesamt mehr als 150 000 Arbeitskräfte beschäftigten. [511] Die Heerscharen von Migranten boten der Malaria neue Ziele. [512] Keller, der deutsche Ingenieur, hatte 1867 am Madeira kaum Malaria gesehen. Als Neville Craig ein Jahrzehnt später eintraf, war die Situation praktisch unverändert. [513]
Doch dann schlug die Krankheit entsetzlich zu. Craig landete am 19 . Februar 1878 in Santo Antônio. Am 23 . März kam das zweite Schiff, und die Zahl der Arbeiter wuchs auf siebenhundert an. Ende Mai hatte die Malaria fast die Hälfte von ihnen außer Gefecht gesetzt. Ende Juli waren zwei Drittel der Mannschaft zu krank, um zu arbeiten; drei Wochen später war dieser Anteil auf drei Viertel gestiegen. Etwa fünfunddreißig Leute waren gestorben, die ersten von vielen, die folgen sollten. Im Januar 1879 waren nur noch rund hundertzwanzig Amerikaner übrig, mehr als die Hälfte von ihnen krank. Im folgenden Monat sei das Unternehmen, wie mein Vorfahr schrieb, «zum völligen Erliegen» gekommen. Zu allem Überfluss weigerten sich die Bankiers der Eisenbahngesellschaft – vermutlich in Hinblick auf kommende Gerichtsverhandlungen –, die aufgelaufenen Löhne der Überlebenden zu zahlen. Krank und mutlos, abgerissen und ohne Schuhe, schlugen sich Craig und etwa hundert Arbeiter den Amazonas hinab bis Belém durch, wo sie um eine Überfahrt nach Hause betteln mussten. Doch während sie noch die Docks abklapperten, planten Investoren in Europa und den USA das nächste Projekt zum Bau der Bahnstrecke – der Kautschuk versprach einfach zu viel Gewinn, als dass man die Idee hätte fallen lassen können. [514]
Selbst in einer Zeit verrückter Boom-and-Bust-Zyklen nahm der Kautschuk eine Sonderstellung ein. Zwischen 1856 und 1896 wuchsen die Kautschuktransporte Brasiliens um mehr als das Zehnfache an, um sich bis 1912 noch einmal zu vervierfachen. Gewöhnlich hätte eine so gigantische Zunahme die Preise drücken müssen. Stattdessen kletterten sie immer weiter. [515] Verführt von den Geschichten über mühelos erworbene Vermögen, drängten sich die Spekulanten auf dem Markt – «selbst Witwen und Pfarrer beteiligen sich mit allem, was sie haben», hieß es in der
New York Times –
und trieben den Preis noch weiter in die Höhe. Wie hoch? Zuverlässige Zahlen sind schwer zu erhalten, weil die Spekulation die Märkte zu unberechenbaren Berg- und Talfahrten veranlasste; um ein extremes Beispiel zu nennen: 1910 schwankte der New Yorker Kautschuk zwischen 1 , 34 und 3 , 06 Dollar pro Pfund. Hinzu kam noch, dass in dieser Zeit Panik auf den Finanzmärkten und politische Instabilität die Währungen von Brasilien, Großbritannien und den USA zu wilden Bocksprüngen veranlassten. «Angesichts der steil emporschießenden Preise bekommen die Gummihersteller graue Haare», behauptete die
Times
am 20 . März 1910 . «Eine Unze Kautschuk, gewaschen und für die weitere Verarbeitung bereit, ist ihr Gewicht nahezu in reinem Silber wert.»
Die Zeitungen übertrieben zwar, hatten aber nicht ganz unrecht. Ein Wirtschaftswissenschaftler errechnete, dass sich der durchschnittliche Londoner Kautschukpreis zwischen 1870 und 1910 ungefähr verdreifacht hatte. Die Statistik ist bemerkenswerter als sie erscheinen mag. Vergleichen wir einmal den Kautschukpreis mit der Entwicklung des Ölpreises, als im Jahr 1900 ein riesiges Vorkommen in Texas entdeckt wurde, durch das die Weltölförderung sich verdoppelte: Die Preise brachen ein. Das Rohöl brauchte zwanzig Jahre, um wieder auf das Preisniveau von 1900 zu klettern. Dass sich die Preise verdreifachten, obwohl die Kautschukproduktion um etwa das Zehnfache zunahm, ist ein Vorgang, der die Rohstoffökonomen ziemlich ratlos macht. «Es ist wirklich erstaunlich», sagt Michael C. Lynch, Präsident des Instituts für Strategische Energie- und Wirtschaftsforschung in Winchester, Massachusetts. «Kein Wunder, dass die Leute durchdrehten.» [516]
Das Finanzzentrum des Handels war Belém. 1616 an der Mündung des größten Flusses der Welt gegründet, hatte der Ort eine strategische Lage – aber kaum die Möglichkeit, sie zu nutzen. Der Amazonas schwemmte so viel Sediment an, dass der Hafen flach und trügerisch war. Schlimmer noch, die Strömungen und Winde, welche die Wassermassen des Amazonas vor der Mündung erzeugten, isolierten die Stadt vom
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