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Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition)

Titel: Kolumbus' Erbe: Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles C. Mann
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Mätresse von Waldemar Scholtz, der unlängst eingewandert war und es rasch zum wichtigsten Kautschukspediteur gebracht hatte – und zum Honorarkonsul von Österreich. Einige Blocks weiter wohnte Aria Ramos, die ein viel bewundertes Doppelleben als Karnevalsdarstellerin und Kurtisane führte; als sie bei einem Jagdunfall ums Leben kam, ließen ihre wohlhabenden Freier auf dem Friedhof eine lebensgroße Statue von ihr aufstellen. Voller Bordelle, schnapstriefender Kneipen, Bars mit wildwestreifen Schlägereien, war Manaus in jeder Hinsicht eine typische Boomtown der Jahrhundertwende: inklusive des Verbots, Schusswaffen auf der Straße abzufeuern, und des obligatorischen Entzündens der Zigarren mit dicken Banknoten. [518]
    So viel Reichtum an einem hochbegehrten Material – Reichtum, der buchstäblich auf Bäumen wuchs – musste natürlich im In- und Ausland, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht großes Interesse erwecken. Im Inland wurde der Kautschukhandel von einem Dutzend Handelsunternehmen eines Bäckers kontrolliert, die ihrerseits von Scholtz & Co. beherrscht wurden, der Handelsgesellschaft, die sich im Besitz jenes Mannes befand, der die Frau im Schaumwein besaß. Wie Scholtz & Co. wurden auch die Exportunternehmen in der Regel von Europäern geleitet – dynamischen, blassen Männern, deren gewachste und pomadisierte Bärte ihnen halfen, sich von der bartlosen indianischen Bevölkerung zu unterscheiden. Als klassische Zwischenhändler entluden und lagerten sie den Kautschuk, der aus dem Landesinneren kam, bevor sie ihn zur Amazonasmündung schickten, wo weitere Handelshäuser unter europäischer Leitung ihn nach Europa und Nordamerika verschifften. Der Kautschuk selbst wurde von Unternehmen ganz anderer Art gewonnen. Die kontrollierten die wichtigste Ressource des Landesinneren: die Menschen.
    Da Latex gerinnt, wenn er der Luft ausgesetzt ist, mussten die Zapfer die Bäume ständig mit neuen Schnitten versehen und sie während der vier- bis fünfmonatigen Zapfsaison täglich kontrollieren. Bevor der Latex trocknete und nur noch schwer zu verwenden war, galt es, ihn zu Rohkautschuk zu verarbeiten. Sowohl Zapfen als auch Verarbeiten verlangten viel Aufwand und Aufmerksamkeit. Diese Arbeit musste in abgelegenen, malariaverseuchten Lagern geleistet werden – schließlich konnten die Bäume nicht an bequemere und gesündere Standorte gebracht werden. Auch war der Latex zu schwer, um ihn in flüssiger Form zu transportieren. Krankheiten und europäische Übergriffe hatten die indigene Bevölkerung erheblich dezimiert. Die Verluste mussten von Europäern ersetzt werden. Die wachsende Gier nach Kautschuk ging Hand in Hand mit einem dramatisch ansteigenden Arbeitskräftemangel. Die Lösungen, die man für dieses Problem fand, waren vielfach äußerst brutal.
    Zunächst schien der Kautschukboom ein Geschenk des Himmels – ein «arboreales» Arbeitsbeschaffungsprogramm – für die immer weiter verarmende Urbevölkerung der Region zu sein. Auf der Suche nach Arbeitskräften stellten die Unternehmen ansässige Indios ein, holten mittellose Bauern vom Unterlauf des Flusses oder kidnappten Hilfskräfte in Bolivien. Nach der gängigen Wirtschaftstheorie hätten die Betreiber angesichts des Arbeitskräftemangels hohe Löhne und angenehme Arbeitsbedingungen versprechen müssen. Das taten sie auch häufig, doch die in Aussicht gestellten Löhne wurden meist von überzogenen Kosten für Beförderung, Verpflegung und Unterkunft aufgefressen. Viele vermeintlich gut bezahlte Männer waren außerstande, ihre Schulden abzuarbeiten; andere fielen Malaria, Gelbfieber oder Beriberi zum Opfer. Um die Arbeiter an der Suche nach besseren Angeboten – oder am Fortlaufen – zu hindern, brachten man sie vor Ort in kahlen, von bewaffneten Aufsehern bewachten Schlafsälen unter. Neville Craigs Chef, der leitende Eisenbahningenieur, besuchte die Konzessionäre, die den Mittelabschnitt des Madeira kontrollierten. Diese lebten in dreistöckigen Häusern mit riesigen Veranden und waren, so schrieb der Ingenieur, «wie mittelalterliche Barone von einem Gefolge bolivianischer Dienstboten und deren Familien umgeben … Diese Männer hatten absolute Gewalt über ihre Peonen.» [519]
    In den 1890 er Jahren wanderte der Boom weiter stromaufwärts, in die Ausläufer der Anden, die bis dahin als nutzlos gegolten hatten und daher den Ureinwohnern überlassen geblieben waren, die meist nur ganz geringfügigen Kontakt zu Europäern

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