Kolyma
Hinterräume des zerstörten Geschäfts. Kaum hatte sie die Treppe erreicht, hörte sie, wie die Aufständischen vom Dach herunterkamen. Jetzt saß sie zwischen dem Panzer und den Rebellen in der Falle. Sie kauerte sich hinter die Ladentheke und zog ihre Pistole. Als sie vorsichtig über die Theke lugte, sah sie, wie ein sowjetischer Soldat die Luke des Panzers öffnete.
Die Aufständischen waren da. Raisa sah ein Maschinengewehr, das von einer jungen Frau mit einem Barett getragen wurde. Die Frau hob das Gewehr und legte schussbereit auf den russischen Soldaten an. Die junge Frau war Soja.
Raisa erhob sich. Sofort reagierte Soja auf die Bewegung, wirbelte herum und richtete die Waffe auf sie. Nach fünf Monaten standen sie sich inmitten von Ziegelstaub und Qualm zum ersten Mal wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Soja ließ das Maschinengewehr sinken, als sei es plötzlich viel zu schwer geworden. Sprachlos und mit offenem Mund stand sie da. Der rußverschmierte russische Soldat hinter ihr, der selbst nicht älter als zwanzig sein mochte, nutzte die Situation und zielte mit seiner Waffe auf Soja. Instinktiv richtete Raisa ihre TT -33 auf ihn und drückte mehrmals ab. Ein Schuss traf den jungen Mann in den Kopf und schleuderte ihn zurück.
Fassungslos über ihre eigene Tat starrte Raisa auf den toten Soldaten, auf den sie immer noch zielte. Erst dann kam ihr wieder zu Bewusstsein, dass ja die Zeit drängte, also riss sie sich zusammen und sah Soja an. Sie machte einen Schritt vor und ergriff die Hände ihrer Tochter.
»Soja, wir müssen hier weg. Du hast mir doch schon mal vertraut. Ich flehe dich an, vertrau mir noch einmal.«
In Sojas Gesicht spiegelte sich ihr innerer Kampf wider. Raisa war erleichtert, das war wenigstens ein Anfang. Gerade wollte Raisa weiterreden, da blieben ihr die Worte im Halse stecken. Am Fuß der Treppe stand Frajera.
Raisa zog Soja beiseite und zielte. Frajera, die nicht mit ihr gerechnet hatte, verteidigte sich nicht. Raisa hatte freie Schussbahn, doch sie zögerte. Im nächsten Moment spürte sie, wie ihr ein Gewehrlauf in den Rücken gedrückt wurde. Soja zielte direkt auf ihr Herz.
Am selben Tag
Nachdem er mehrere Stunden lang nach Raisa gesucht hatte, immer in der Angst, sie könnte verletzt sein, begriff Leo endlich, dass sie sich offensichtlich davongemacht hatte, um Soja zu suchen. Also glaubte sie wohl nicht daran, dass Soja mit ihm nach Hause kommen würde. Um Raisa wieder einzuholen, rannte er zum Corvin-Kino, wo man Soja zuletzt gesehen hatte. Das Kino war ein leicht zu verteidigendes, von der Straße zurückgesetztes Gebäude. Der Fußpfad, der zu ihm führte, war von einer befestigten Schanze versperrt.
Ein Aufständischer näherte sich. Karoly war weit zurückgeblieben, er hatte Leos Tempo nicht folgen können. Leo war nun ohne Übersetzer, doch jegliche Fragen wurden ihm durch das Auftauchen eines sowjetischen T -34 -Panzers erspart, der mittlerweile in der Hand der Aufständischen war. Vom Turm hing eine ungarische Fahne herab. Jubelnd umringten ihn die Kämpfer. Leo schob sich durch die Menge und zeigte das Foto von Soja vor. Nachdem er einen Blick auf das Bild geworfen hatte, deutete ein Mann den Boulevard hinunter.
Leo rannte weiter. Der Boulevard war menschenleer. Leo blieb stehen und hockte sich hin. Auf der Straße lag zerrissene Seide. An einigen Stellen war sie versengt und qualmte, an anderen war sie vollkommen durchtränkt. Leo sah, wo der erbeutete Panzer von der Straße geschlittert und in das Schaufenster eines Geschäfts gekracht war. Auf dem Boden hatte man die Leichen von vier sowjetischen Soldaten übereinandergelegt. Keiner von ihnen war älter als zwanzig.
Sonst war keine Menschenseele da.
Am selben Tag
Raisa schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche in den Nachbarräumen. Sie hörte, wie Leute hin- und herliefen und riefen, wie Gegenstände über den Boden geschleift wurden, hörte auf Russisch und Ungarisch gebrüllte Befehle. Verwundete schrien vor Schmerzen auf. Ein Raum wurde offensichtlich dazu benutzt, die im Kampf erlittenen Verwundungen notdürftig zu verarzten, ein anderer als Kantine für Frajeras Guerillabande. Der Geruch von Desinfektionsmittel mischte sich mit den Kochdünsten von gebratenem Fleisch und Schmalz.
Als man sie mit vorgehaltener Waffe von dem Panzer weggeführt hatte, hatte Raisa kaum darauf geachtet, wohin man sie brachte. Ihr einziges Augenmerk hatte Soja gegolten, die wie eine
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