Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kolyma

Kolyma

Titel: Kolyma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
halben Stunde da.«
    Leo hängte ein. Unter seine Verärgerung mischte sich Unbehagen. Nikolai hätte ihn nicht ohne Grund kontaktiert. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte Raisa sich aufgesetzt.
    Achselzuckend erstattete Leo Bericht. »Ein ehemaliger Kollege. Er will, dass wir uns treffen. Sagt, es muss unbedingt noch heute Abend sein.«
    »Ein Kollege? Von wann? Von damals?«
    »Ja.«
    »Und der ruft dich einfach so mir nichts, dir nichts an?«
    »Er war betrunken. Ich werde mit ihm reden.«
    »Leo ...?« Sie beendete den Satz nicht.
    Leo nickte. »Mir hat es auch nicht gefallen.«
    Er schnappte sich seine Kleider, zog sich rasch an und war praktisch schon ausgehfertig. Als er sich die Schnürsenkel zuband, sah er etwas Reflektierendes unter dem Bett. Seltsam. Er beugte sich vor und hockte sich hin.
    »Was ist los?«, fragte Raisa.
    Es war ein großes Küchenmesser. Direkt daneben war eine Kerbe im Boden. »Leo?«
    Eigentlich sollte er es ihr zeigen. »Es ist nichts.«
    Als sich Raisa vorbeugte, um nachzuschauen, verbarg er das Messer hinter seinem Rücken und schaltete das Licht aus.
    Im Flur legte er die Schneide flach in seine Hand. Er äugte zum Schlafzimmer seiner Töchter hinüber. Dann trat er zur Tür und schob sie auf. Das Zimmer war dunkel. Beide Mädchen waren im Bett und schliefen. Leo trat zurück und lächelte, als er den leichten Atem der schlafenden Elena ausmachte. Dann blieb er stehen und hörte genauer hin. Aus Sojas Zimmerecke kam kein Laut. Sie hielt die Luft an.

14. März

    Leo fuhr zu schnell und kam in einer Kurve ins Schleudern, die Räder rutschten über das Glatteis. Er ging vom Gas und brachte den Wagen wieder auf die Fahrbahn zurück. Sein Rücken war schweißnass, und er war heilfroh, als er endlich das Büro des Morddezernats erreicht hatte. Er parkte am Straßenrand und legte den Kopf aufs Steuer. Im kalten, unbeheizten Wageninnern erzeugte sein Atem einen feinen Nebel. Es war ein Uhr morgens. Die Straßen waren verlassen und mit Schneematsch bedeckt. Leo fing an zu frösteln, er hatte weder Handschuhe noch eine Mütze mitgenommen, als er aus der Wohnung geeilt war. Nur raus, nur weg von der Frage, warum die Schlafzimmertür offen gestanden hatte, warum seine Tochter so getan hatte, als schliefe sie, und warum unter seinem Bett ein Messer gelegen hatte.
    Bestimmt gab es dafür eine Erklärung, eine simple, ganz banale Erklärung. Vielleicht hatte er die Tür offen stehen lassen. Vielleicht war seine Frau zur Toilette gegangen und hatte danach vergessen, die Tür wieder zuzumachen. Und dass Soja nur vorgetäuscht hatte zu schlafen - da hatte er sich bestimmt verhört. Aber warum hätte sie eigentlich schlafen sollen? War doch logisch, dass sie wach war. Das Telefon hatte sie geweckt, und sie hatte im Bett gelegen und versucht, wieder einzuschlafen, mit Recht sauer. Und was das Messer betraf ... keine Ahnung, er konnte sich auch gerade nicht darauf konzentrieren. Aber dafür gab es bestimmt einen harmlosen Grund, auch wenn ihm gerade nicht einfiel, was für einen.

    Leo stieg aus dem Wagen, schloss die Fahrertür und ging zu seinem Büro. Es lag südlich des Flusses, im Stadtteil Samoskworetschje, einem Viertel mit vielen Fabriken. Seinem Morddezernat war eine Etage über einer riesengroßen Bäckerei zugewiesen worden. Das war gleichermaßen eine Herabsetzung wie eine Erinnerung daran, dass die Arbeit des Dezernats unsichtbar zu bleiben hatte. Das Büro lief unter der Adresse Knopffabrik 14, und Leo fragte sich immer wieder, was wohl in den anderen dreizehn Knopffabriken so vor sich ging.
    Während er den heruntergekommenen Eingangsbereich betrat, dessen Fußboden ein einziges Gewirr von bemehlten Fußabdrücken war, ließ er die Ereignisse des Abends in seinem Kopf noch einmal Revue passieren. Für zwei der drei Vorkommnisse hatte er eine einleuchtende Erklärung gefunden, aber an dem dritten, dem Messer, ließ sich einfach nichts deuteln. Die Sache würde bis zum Morgen warten müssen, dann konnte er mit Raisa darüber sprechen. Im Moment war Nikolais unerwarteter Anruf dringlicher. Leo musste sich darauf konzentrieren, warum ihn ein Mann, den er seit sechs Jahren nicht gesprochen hatte, mitten in der Nacht besoffen anrief und sich unbedingt mit ihm treffen wollte. Sie beide verband eigentlich gar nichts, weder Verpflichtung noch Freundschaft. Nichts außer diesem einen Jahr, 1949, Leos erstem als MGB-Agent.
    Nikolai erwartete ihn oben an der Treppe, wie ein Penner kauerte

Weitere Kostenlose Bücher