Kolyma
hatte genügend Leine, um sich an der Reling entlangzuhangeln und den jungen Wärter zu packen. Jämmerlich versuchte Genrich, sich aus dem Eisengestänge zu befreien, aber er hing fest. Wenn die Trümmer über Bord gingen, würden sie Genrich mitnehmen. Timur konnte ihn retten. Doch Timur rührte sich nicht. Er warf einen schnellen Blick aufs Meer. Das Schiff erklomm eine weitere Welle, bald würden sie wieder ins nächste Tal fallen, und die unbändige Kraft, die das festgeschraubte Maschinengewehr vom Deck gerissen hatte, würde auch sie wegspülen.
Timur wandte sich von Genrich ab, griff nach der Leine und zog sich zum Turm zurück. Das Schiff kippte und neigte sich nach vorn. Timur erreichte die Tür, kletterte hinein und verschloss sie fest.
* * *
Genrich wurde von einer Welle emporgehoben und ruderte mit den Armen, um oben zu bleiben. Das Meer war so kalt, dass er unterhalb der Hüfte nichts mehr spürte. Als er über Bord gespült worden war, hatte er einen heftigen Schmerz gespürt, weil der Stahl ihm das Fleisch aufgerissen hatte. Aber jetzt war er taub vor Schock und der Schmerz verschwunden, so als hätten die eiskalten Wellen ihn in der Mitte durchgebissen. Eine Sekunde lang sah er noch das Schiff und die Lichter am Turm. Dann war es verschwunden.
Zehn Kilometer nördlich von Moskau
8. April
Sojas Hand- und Fußgelenke waren mit dünnem Draht gefesselt. Sie hatten ihn so fest gewickelt, dass er ihr in die Haut schnitt, sobald sie sich bewegte. Mit einer Augenbinde und einem Knebel im Mund lag sie auf der Seite. Keine Decke lag unter ihr, nichts, was die Schlaglöcher in der Straße etwas abgefedert hätte. Nach dem Motorenlärm und dem Platz um sie herum zu urteilen befand sie sich auf der Ladefläche eines Lasters. Sie spürte jede Beschleunigung und jede Vibration durch den Blechboden. Bei jedem abrupten Halt rollte sie vor und zurück, eher wie ein Kadaver als wie ein lebender Mensch. Nachdem sie sich erst einmal von ihrer Orientierungslosigkeit erholt hatte, hatte sie damit begonnen, sich die Fahrt einzuprägen. Anfangs waren sie oft abgebogen und durch den Verkehr gekurvt. Da waren sie in einer Stadt gewesen, vermutlich in Moskau, obwohl sie das nicht mit Sicherheit wissen konnte. Im Augenblick fuhren sie bei gleichbleibender Geschwindigkeit geradeaus. Sie mussten die Stadt also verlassen haben. Außer dem röhrenden Motorenlärm hörte man nichts, auch keinen Verkehr. Sie wurde also an irgendeinen entlegenen Ort gebracht. Daraus und aus der Tatsache, dass man sich um ihre Verfassung offensichtlich keine Gedanken gemacht und ihr den Knebel so weit in den Mund geschoben hatte, dass sie beinahe daran erstickte, schloss Soja, dass sie bald sterben müsste.
Wie lange war sie jetzt schon gefangen? Unmöglich zu sagen, sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Nachdem man sie aus der Wohnung entführt hatte, war sie betäubt worden. Zusammengeschnürt im Wagen liegend hatte sie noch mitbekommen, wie Raisa abgestürzt war. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, bevor sie wieder aufgewacht und sich auf dem Boden einer fensterlosen Backsteinkammer wiedergefunden hatte, mit hämmernden Kopfschmerzen und einem staubtrockenen Mund. Obwohl sie bewusstlos gewesen war, als man sie dorthin gebracht hatte, sagte ihr ein deutliches Gefühl, dass sie sich tief unter der Erde befinden musste. Die Luft war stets kalt und feucht. Die Ziegel erwärmten sich nie und ließen keine Rückschlüsse über Tag und Nacht zu. Nach dem Gestank zu urteilen war irgendein Abwassersystem in der Nähe, und oft hörte sie Wasser rauschen. Manchmal waren die Erschütterungen so stark, dass man hätte meinen können, auf der anderen Seite befände sich ein Tunnel mit einem unterirdischen Fluss. Man hatte ihr etwas zu essen und eine Decke gebracht. Ihre Häscher unternahmen keinerlei Anstrengungen, ihre Identität zu verbergen. Außer einer Reihe kurz angebundener Befehle und Fragen hatte bislang keiner mit ihr gesprochen oder über das Lebensnotwendige hinaus irgendein Interesse an ihr gezeigt. Dennoch hatte sie gelegentlich das unbestimmte Gefühl gehabt, dass jemand sie aus der schützenden Dunkelheit des Flurs vor ihrer Zelle heraus beobachtet hatte. Wann immer Soja sich näher herangerollt und versucht hatte, einen Blick auf die Person zu erhaschen, hatte die sich in die Dunkelheit zurückgezogen.
In diesen ersten beiden Wochen hatte sie viel über den Tod nachgedacht und das Thema immer wieder von Neuem gewälzt,
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