Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
da war. Sein Blick blieb am Tisch hängen. Ein Handy.
Er hörte, wie die Luft ganz von selbst seine Lunge verließ, und spürte die Erleichterung. Sie war nur rasch einkaufen gegangen und hatte ihr Handy liegenlassen. Hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, abzuschließen. Vielleicht in der Stadtteilapotheke, um sich Kopfschmerztabletten oder etwas gegen Fieber zu holen. Ja, so musste es sein. Harry dachte an die Joggingschuhe auf der Treppe. Na und? Eine Frau hatte doch wohl mehr als ein Paar Schuhe? Er musste sicher nur ein paar Minuten warten, dann war sie wieder da.
Harry trat von einem Bein aufs andere. Das Sofa sah verlockend aus, aber er ging noch immer nicht ins Zimmer. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Unter dem Couchtisch vor dem Fernseher war ein helleres Feld.
Sie musste ihren Teppich rausgeschmissen haben.
Erst vor kurzem.
Harry spürte das Jucken unter seinem Hemd, als hätte er sich gerade erst verschwitzt im Gras gewälzt. Er hockte sich hin. Dem Parkett entströmte ein leichter Salmiakgeruch. Harry stand auf, wich zurück. Ging durch den Flur in die Küche.
Leer, aufgeräumt.
Öffnete den hohen Schrank neben dem Kühlschrank. Es schien so, als gäbe es in den Häusern aus den fünfziger Jahren ungeschriebene Regeln dafür, wo man seine Essensvorräte aufbewahrte, das Werkzeug, wichtige Papiere und eben Putzmittel. Am Boden des Schranks stand der Wischeimer mit dem Aufnehmer, auf der Ablage darüber lagen drei Staubtücher und zwei Rollen weiße Abfallsäcke. Die eine angefangen, die andere neu. Eine Flasche Neutralreiniger. Und eine Flasche mit Namen Bona Polish. Er sah sie sich genauer an.
Für Parkettböden. Ohne Salmiak.
Harry stand langsam auf. Blieb regungslos stehen und lauschte. Schnupperte.
Er war etwas angerostet, versuchte aber, alle Eindrücke in sich aufzunehmen und mit dem abzugleichen, was er schon gesehen hatte. Der erste Eindruck. Er hatte das in seinen Vorlesungen wieder und wieder betont. Für einen taktischen Ermittler waren die ersten Gedanken, die sich an einem Tatort meldeten, oft die wichtigsten und richtigsten. Das waren Daten, die von noch ganz wachen Sinnen aufgefangen wurden, ehe sie müde wurden und Gegenwind von den trockenen Fakten der Kriminaltechniker bekamen.
Harry schloss die Augen und versuchte zu hören, was das Haus ihm sagen wollte. Welche Details hatte er übersehen, was konnte ihm sagen, was er wissen musste?
Aber falls das Haus redete, wurde es von dem Lärm des Müllwagens übertönt, der jetzt direkt vor dem Haus hielt. Er hörte die Stimmen der Müllmänner, das Quietschen des Gartentors, gefolgt von einem fröhlichen Lachen. Unbekümmert. Als wäre nichts geschehen. Vielleicht war ja auch nichts geschehen. Vielleicht kam Beate gleich zur Tür herein, schniefte und wickelte sich den Schal enger um den Hals, ehe sie ihn bemerkte und ein Strahlen über ihr Gesicht ging, das dann noch breiter werden würde, wenn er sie fragte, ob sie seine Trauzeugin sein wollte, wenn er Rakel heiratete. Sie würde lachen und tiefrot werden, wie sie es immer wurde, wenn jemand in ihre Richtung sah. Das Mädchen, das sich früher einmal im House of Pain eingemauert hatte, dem Videoraum der Polizei, und zwölf Stunden lang ohne eine einzige Unterbrechung, dafür aber mit unfehlbarer Sicherheit maskierte Räuber auf den Überwachungsvideos der Banken angesehen hatte, bevor sie Leiterin der Kriminaltechnik geworden war. Eine zurückhaltende Chefin. Harry schluckte.
Was er dachte, klang wie eine Grabrede.
Hör auf! Sie kommt gleich wieder! Er atmete tief durch. Hörte das Gartentor zufallen, ehe sich der Schieber des Müllwagens in Bewegung setzte.
Dann war es plötzlich da. Das Detail. Das, was nicht stimmte.
Er starrte in den Schrank. Eine halbe Rolle weiße Müllsäcke.
Die Säcke in der Mülltonne waren aber schwarz.
Harry stieß sich ab.
Stürmte durch den Flur, aus der Tür und zum Gartentor. Er rannte, so schnell er konnte, trotzdem lief ihm sein Herz weg.
»Stopp!«
Einer der Müllmänner hob den Blick. Er stand mit einem Bein auf der Plattform des Müllwagens, der bereits auf dem Weg zum nächsten Haus war. Das Knirschen des Stahlschiebers hörte sich für Harry so an, als käme es aus seinem eigenen Kopf.
»Haltet die Scheißmaschine an!«
Er sprang über den Zaun und landete mit beiden Füßen draußen auf dem Asphalt. Der Müllmann reagierte sofort, drückte den roten Nothalteknopf des Schiebers und hämmerte mit der Faust an die Seite des
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