Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
aber jetzt, da die Entscheidung gefallen war, empfand er sie als leicht. Er atmete wieder aus. Der Dämon war frei.
»Hallo«, sagte Ståle und schloss die Tür des Heizungsraums hinter sich. »Bist du allein?«
»Ja«, sagte Bjørn, der auf seinem Stuhl saß und sein Telefon anstarrte.
Ståle setzte sich. »Wo …?«
»Harry wollte irgendwas erledigen, und Katrine war schon weg, als ich gekommen bin.«
»Du scheinst einen harten Tag hinter dir zu haben.«
Bjørn lächelte blass. »Du auch, Doktor Aune.«
Ståle fuhr sich mit der Hand über den Schädel. »Tja. Ich habe gerade in einem Klassenzimmer gestanden und heulend meine Tochter umarmt, während die ganze Klasse zugesehen hat. Aurora meinte, dass sie das nie wieder vergessen werde. Ich habe ihr zu erklären versucht, dass Kinder in der Regel stark genug sind, um die Bürde zu tragen, die ihnen durch die übertriebene Liebe ihrer Eltern auferlegt wird, dass sie das aus darwinistischer Sicht also sicher überleben wird. Und das alles bloß, weil sie bei Emilie übernachtet hat. Nur dass sie zwei Emilies in der Klasse hat und ich die falsche Mutter angerufen habe …«
»Hast du nicht mitbekommen, dass wir das Treffen heute Morgen abgesagt haben? Es ist wieder eine Leiche gefunden worden. Ein Mädchen.«
»Doch, doch, das weiß ich. Eine üble Sache, nicht wahr?«
Bjørn nickte langsam. Zeigte auf das Telefon. »Und ich soll jetzt ihren Vater anrufen.«
»Und dir graut natürlich davor.«
»Logisch.«
»Du fragst dich, warum ihr Vater auf eine solche Weise gestraft werden muss? Warum er sie zweimal verlieren soll, warum einmal nicht reicht?«
»In etwa, ja.«
»Der Mörder sieht sich selbst als eine Art göttlichen Rächer, Bjørn.«
»Ach ja?«, sagte Bjørn und sah den Psychologen mit leerem Blick an.
»Du kennst doch die Bibelstelle? Ein eifernder und rächender Gott ist der HERR , ein Rächer ist der HERR und voller Zorn, ein Rächer ist der HERR gegenüber seinen Widersachern, er verharrt im Zorn gegen seine Feinde. Die Übersetzung stammt zwar aus den Fünfzigern, aber du verstehst das, oder?«
»Ich bin ein einfacher Junge aus Østre Toten, aber ich bin konfirmiert worden und …«
»Ich habe nachgedacht, deshalb bin ich jetzt hier.« Ståle beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Der Mörder ist ein Rächer, und Harry hat recht, er tötet aus Liebe, nicht aus Hass, Gier oder irgendwelchen sadistischen Trieben. Jemand hat ihm etwas genommen, das er liebt, und jetzt nimmt er seinen Opfern, was sie am meisten lieben. Es kann ihr Leben sein. Oder etwas, was ihnen noch wichtiger ist: das Leben ihrer Kinder.«
Bjørn nickte: »Roar Midtstuen wäre sicher gern dazu bereit, das Leben, das er jetzt lebt, gegen das seines Kindes einzutauschen.«
»Wir müssen also nach jemandem suchen, der einen Menschen verloren hat, den er liebt. Einen Rächer im Namen der Liebe. Denn das …«, Ståle Aune ballte die rechte Hand zur Faust, »… ist das einzige Motiv, das wirklich stark genug ist. Bjørn? Hast du verstanden?«
Bjørn nickte. »Glaube schon. Aber ich muss jetzt wirklich Midtstuen anrufen.«
»Tu das, ich gehe raus, dann hast du Ruhe.«
Bjørn wartete, bis Ståle den Raum verlassen hatte, dann wählte er die Nummer, auf die er schon so lange starrte, dass sie sich fast in seine Netzhaut eingebrannt hatte. Er atmete tief ein, während er die Freizeichen zählte. Wie lange musste er es klingeln lassen, bevor er wieder auflegen konnte?
Da hörte er die Stimme seines Kollegen.
»Bjørn, bist du das?«
»Ja, du hast meine Nummer gespeichert?«
»Ja, natürlich.«
»Okay. Ja, also. Ich muss dir was sagen.«
Pause.
Bjørn schluckte. »Es geht um deine Tochter. Sie wurde …«
»Bjørn«, unterbrach die Stimme ihn abrupt. »Ehe du weiterredest. Ich weiß nicht, um was es geht, aber ich höre dir an, dass es wichtig ist. Und ich will über Fia nichts mehr am Telefon hören, das ist sonst genau wie damals. Da wollte mir auch keiner in die Augen sehen. Sie haben alle nur angerufen. Das ist bestimmt leichter. Tust du mir den Gefallen und kommst hierher? Bjørn?«
»Natürlich!«, sagte Bjørn Holm überrascht. Er hatte Roar Midtstuen nie so offen und ehrlich über seine Schwäche reden hören. »Wo bist du denn?«
»Der Unfall ist heute genau neun Monate her. Ich bin auf dem Weg zu der Stelle, an der es passiert ist. Ich will da Blumen hinlegen …«
»Erklär mir einfach, wo das ist, dann komme ich dahin.«
Katrine Bratt gab den Versuch
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