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Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)

Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)

Titel: Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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langen Fingern hoben sich. Es sah aus, als wollten sie den Schlipsknoten in dem Nadelstreifensakko zurechtrücken, taten es dann aber nicht. Ståle hatte diese Ausweichbewegung auch schon bei anderen Patienten gesehen. Sie kamen häufig bei Menschen vor, die es geschafft hatten, bestimmte Zwangshandlungen abzulegen, aber nicht die einleitende Bewegung dazu, eine angedeutete Handlung, die nun gar keinen Sinn mehr ergab. Wie eine Narbe oder ein Hinken. Ein Echo. Eine Mahnung, dass nichts ganz verschwindet, dass alles irgendwo einen Abdruck hinterlässt. Wie die Kindheit. Menschen, die man kennt. Etwas, das man gegessen und nicht vertragen hat. Eine vergessene Leidenschaft. Das Gedächtnis der Zellen.
    Die Hand des Patienten fiel wieder in seinen Schoß. Er räusperte sich kurz, und seine Stimme klang gequetscht und metallisch: »Wie zum Teufel meinen Sie das? Kommen Sie mir nicht mit so einer Freud-Scheiße.«
    Ståle musterte den Mann. Er hatte erst vor kurzem beiläufig eine Krimiserie im Fernsehen verfolgt, in der es darum gegangen war, dem Gefühlsleben der Menschen anhand ihrer Körpersprache auf die Spur zu kommen. Die Körpersprache war durchaus interessant, die Stimme war aber viel aussagekräftiger. Die Muskeln in den Stimmbändern und der Kehle waren so fein justierbar, dass sie Schallwellen in Form von identifizierbaren Worten ausstoßen konnten. Als Ståle an der Polizeihochschule unterrichtete, hatte er die Studenten mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, wie groß dieses Wunder an sich schon war. Und doch gab es ein noch sensibleres Instrument, nämlich das menschliche Ohr.
    Es konnte nicht nur Schallwellen dechiffrieren und in Vokale und Konsonanten zerlegen, sondern auch die Tontemperatur heraushören, den Grad der Anspannung und die Gefühlslage des Sprechenden. In einem Verhör war das Hören deshalb wichtiger als das Sehen. Ein Anheben der Stimme, ein kaum hörbares Zittern waren signifikantere Signale als verschränkte Arme, geballte Fäuste oder die Größe der Pupillen. All die Faktoren, denen die neue Riege der Psychologen so viel Gewicht beimaß, die nach Ståles Erfahrung die Ermittler aber eher verwirren und auf falsche Fährten locken konnten. Der Patient, der vor ihm saß, fluchte und schimpfte, und doch war es das Druckmuster auf den Membranen in Ståles Ohr, das ihm verriet, wie wachsam und zornig der Mann war. Normalerweise machte das einem erfahrenen Psychologen keine Sorge. Im Gegenteil, starke Emotionen bedeuteten oft den bevorstehenden Durchbruch in der Therapie. Bei diesem Patienten stimmte aber die Reihenfolge nicht. Auch nach Monaten mit regelmäßigen Konsultationen hatte Ståle keinen Kontakt zu ihm bekommen, es gab keine Nähe, kein Vertrauen zwischen ihnen. Das Ganze war so ergebnislos, dass Ståle ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, diesem Patienten den Abbruch der Therapie nahezulegen und ihn eventuell an einen Kollegen zu überweisen. Wut war in einer ansonsten sicheren, vertrauten Atmosphäre durchaus etwas Positives, konnte in diesem Fall aber dazu führen, dass der Patient sich vollends verschloss und noch tiefer in seinem Schützengraben vergrub.
    Ståle seufzte. Er hatte offensichtlich die falsche Entscheidung getroffen, da er diese aber nicht mehr rückgängig machen konnte, ging er einen Schritt weiter.
    »Paul«, sagte er. Der Patient hatte unterstrichen, dass sein Name bitte nicht norwegisch, sondern englisch auszusprechen sei. Diese Tatsache, verbunden mit den sorgsam gezupften Augenbrauen und den kleinen Narben unter dem Kinn, die eine plastische Operation vermuten ließen, hatte ausgereicht, dass Ståle ihn bereits zu Beginn ihrer ersten Sitzung in eine Schublade gesteckt hatte.
    »Unterdrückte Homosexualität ist weit verbreitet, auch in unserer angeblich so toleranten Gesellschaft«, sagte Aune und beobachtete den Patienten, um seine Reaktion zu verfolgen. »Viele meiner Patienten sind Polizisten, und einer, der bei mir in Therapie ging, erzählte mir, dass er sich selbst gegenüber seine Neigung gut eingestehen könne, dazu auf der Arbeit aber nicht in der Lage sei, weil er sich damit komplett ins Abseits stellen würde. Ich habe ihn gefragt, warum er sich da so sicher sei. Bei dem Thema Unterdrückung geht es häufig um die Erwartungen, die wir an uns selbst haben und die wir unserem Umfeld unterstellen. Ganz besonders den Menschen, die uns nahestehen, also Angehörigen, Freunden und Kollegen.«
    Er hielt inne.
    Die Pupillen des Patienten hatten

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