Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)
Ausführlich. Zum ersten Mal seit langem. Sie hatte geweint. Nicht das wütende Weinen, das er so hasste, sondern das andere, das weiche, das weniger schmerzhaft war, dafür viel mehr Sehnsucht enthielt. Sehnsucht nach etwas, das vergangen war und nicht wiederkam. Dieses Weinen erzählte ihm von einer Beziehung, von damit verbundenen Dingen, die so kostbar waren, dass man sich danach sehnen konnte. Er spürte diese Sehnsucht erst, als sie zu weinen angefangen hatte. Als bräuchte er ihre Tränen als Wegweiser. Sie zogen den Vorhang beiseite, der sonst immer da war, die Trennwand zwischen dem, was Mikael Bellman dachte und was Mikael Bellman fühlte. Sie weinte für sie beide, das war schon immer so gewesen. Wie sie auch für sie beide gelacht hatte.
Er hatte sie trösten wollen. Hatte ihr über die Haare gestreichelt und sich von ihren Tränen sein hellblaues Hemd durchnässen lassen, das sie tags zuvor für ihn gebügelt hatte. Dann hatte er sie geküsst, fast gewohnheitsmäßig. Oder bewusst? Aus Neugier? Weil er wissen wollte, wie sie reagieren würde? Die gleiche Neugier, die ihn als jungen Ermittler angetrieben hatte, Verdächtige nach dem neunstufigen Verhörmodell von Inbau, Reid und Buckley zu befragen, bei dem immer wieder an die Gefühle appelliert wurde, um zu sehen, wie die Betreffenden reagierten.
Ulla hatte seinen Kuss zuerst nicht erwidert, war bloß erstarrt. Dann war sie ganz langsam aufgetaut. Abwartend und zögernd, bis sie gieriger wurde und ihn schließlich vollkommen kopflos hinter sich her ins Bett gezogen hatte. Sie hatte sich die Kleider vom Leib gerissen. Und im Dunkel hatte er gedacht, dass sie nicht er war. Sie war nicht Gusto. Seine Erektion war weg gewesen, noch ehe er im Bett gelandet war.
Er hatte Erschöpfung vorgeschoben. Unzählige Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, die verwirrende Situation, die Scham über das, was er getan hatte. Und natürlich hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass sie nichts damit zu tun hatte. Was diesen Punkt anging, hatte er sogar die Wahrheit gesagt.
Er schloss wieder die Augen. Aber es war unmöglich zu schlafen. Zu groß war die Unruhe, die immer gleiche Unruhe, wegen der er in den letzten Monaten wieder und wieder aus dem Schlaf aufgeschreckt war. Das vage Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen war oder geschehen würde. Eine Weile hoffte er, dass es nur der Nachgeschmack eines Traums war, den er geträumt hatte, doch dann fiel ihm ein, was es war.
Er öffnete die Augen. Und sah ein Licht. Ein weißes Licht unter der Decke. Es kam vom Boden neben dem Bett. Er drehte sich um und sah auf das Display des Telefons. Es war lautlos gestellt, ausschalten tat er es nie. Mit Isabelle war er übereingekommen, nachts grundsätzlich keine Nachrichten zu schicken. Warum sie zu dieser Zeit keine Nachrichten empfangen wollte, hatte er nicht einmal gefragt. Sie hatte es recht gelassen aufgenommen, als er ihr erklärt hatte, dass sie sich eine Weile nicht mehr sehen könnten.
Mikael war erleichtert, als er sah, dass die SMS von Truls war. Stutzte dann aber doch. Vermutlich war er wieder betrunken. Oder er hatte seine Nachricht an die falsche Adresse geschickt. Vielleicht eine Verehrerin, von der er ihm noch nichts erzählt hatte. Die SMS bestand bloß aus zwei Worten:
Schlaf gut .
Anton Mittet wurde wieder wach.
Das Erste, was er registrierte, war das leise Murmeln des Regens auf der Windschutzscheibe. Der Motor war aus, sein Kopf schmerzte, und er konnte die Hände nicht bewegen.
Er öffnete die Augen.
Die Scheinwerfer brannten noch immer und schienen den Hang hinunter, durch den Regen, und starrten in das Dunkel, wo der Boden plötzlich zu verschwinden schien. Durch das Wasser auf der Windschutzscheibe konnte er den Wald auf der anderen Seite der Schlucht nicht erkennen, er wusste aber, dass er da war. Unbewohnt. Still. Blind. Damals hatten sie keine Zeugen auftreiben können, dieses Mal würde es nicht anders sein.
Er sah auf seine Hände. Er konnte sie nicht bewegen, weil sie mit Plastikstrips am Lenkrad befestigt worden waren. Diese Dinger hatten die traditionellen Handschellen der Polizei fast vollkommen abgelöst. Man legte die dünnen Bänder einfach um die Handgelenke des zu Verhaftenden und straffte sie. Niemand war stark genug, sie zu zerreißen, und setzte sich ein Häftling doch zur Wehr, schnitten sich die Bänder durch Haut und Fleisch bis auf den Knochen.
Anton klammerte seine Finger um das Lenkrad, aber seine Hände waren fast
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