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Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)

Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition)

Titel: Koma: Kriminalroman (Ein Harry-Hole-Krimi) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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das Fenster der Straßenbahn. Die Morgensonne löste langsam den Dunst auf, der über dem Frognerpark lag, und die taunassen Tennisplätze waren noch verwaist. Ein abgemagerter, alter Mann stand verlassen auf der Aschefläche eines netzlosen Spielfelds, das noch nicht für die Saison vorbereitet worden war, und starrte auf die Straßenbahn. Dünne Beine ragten aus altmodischen Tennisshorts, und das Hemd, das er trug, ein altes blaues Businesshemd, war schief geknöpft. Er malte langsam mit dem Schläger Kreise in die Asche. Er wartet auf einen Partner, der nicht kommt, dachte Beate. Vielleicht war die Verabredung im letzten Jahr gewesen, vielleicht lebte der andere aber auch gar nicht mehr. Sie wusste, wie es ihm ging.
    Als die Straßenbahn vor dem Eingang des Parks an der Haltestelle hielt, fiel ihr Blick auf die Silhouette des Monolithen.
    Sie war bei einem Mann gewesen, nachdem Katrine den Schlüssel für die Asservatenkammer abgeholt hatte. Deshalb befand sie sich jetzt in der Straßenbahn auf dieser Seite der Stadt. Ein ganz gewöhnlicher Mann, das war jedenfalls ihre Bezeichnung für ihn. Kein Traumprinz. Aber ein Mann, wie man ihn manchmal brauchte. Seine Kinder lebten bei seiner Ex, und jetzt, da Tulla bei der Oma in Steinkjer war, hatten sie Zeit und Gelegenheit, sich öfter zu treffen. Trotzdem hatte Beate das Bedürfnis, diese Treffen zu begrenzen. Im Grunde war es ihr wichtiger zu wissen, dass er da war und sie die Möglichkeit hatte, zu ihm zu fahren, als dass sie wirklich Zeit miteinander verbrachten. Er hätte Jack ohnehin nicht ersetzen können, aber das machte nichts. Sie wollte keinen Ersatz, sie wollte, dass es so war, wie es war. Unverbindlich, ohne Verpflichtungen, ein nicht so hoher Preis, wenn es ihr genommen würde.
    Beate starrte aus dem Fenster auf die entgegenkommende Straßenbahn, die neben ihnen zum Stehen gekommen war. Es war so still, dass sie das leise Surren der Ohrhörer des Mädchens neben sich hörte und irgendeinen nervigen Popsong aus den Neunzigern erkannte. Damals war sie noch das stillste Mädchen der ganzen Polizeihochschule gewesen. Blass, mit der Tendenz rot zu werden, wenn jemand auch nur in ihre Richtung sah. Was glücklicherweise nicht viele getan hatten. Und die wenigen, die es getan hatten, hatten sie im nächsten Augenblick schon wieder vergessen. Beate hatte die Art von Gesicht und Ausstrahlung, die sie unsichtbar machte, ein Wasserzeichen, visuelles Teflon.
    Dafür erinnerte sie sich an alle.
    An jeden Einzelnen.
    Und deshalb sah sie heute wie damals in die Gesichter in der Straßenbahn nebenan und wusste, wen sie wo schon einmal gesehen hatte. In der gleichen Straßenbahn tags zuvor, auf einem Schulhof vor zwanzig Jahren, auf dem Überwachungsvideo einer Bank, auf dem sie die Täter identifizieren sollte, oder auf der Rolltreppe von Steen & Strøm, wo sie sich eine Strumpfhose gekauft hatte. Es nützte nichts, dass sie älter geworden waren, neue Frisuren hatten, geschminkt waren, einen Bart trugen, Botox oder Silikon in sich hatten. Ihre eigentlichen Gesichter schienen immer durch. Wie eine Konstante, etwas Einmaliges, wie die elfstellige Zahl eines DNA -Codes. Diese Fähigkeit war ihr Segen und ihr Fluch, einige Psychiater hatten sie als Asperger-Syndrom eingestuft, andere als einen kleinen Gehirnschaden, den ihr Gyrus fusiformis – das Zentrum des Gehirns für die Gesichtserkennung – zu kompensieren versuchte. Wieder andere, die Klügeren, hatten sich gar nicht dazu geäußert, sondern lediglich festgestellt, dass sie sich an diese Zahlen erinnerte und sie alle wiedererkannte.
    Deshalb war es nichts Ungewöhnliches für Beate, dass ihr Gehirn bereits wieder dabei war, das Gesicht des Mannes in der anderen Straßenbahn einzuordnen.
    Ungewöhnlich war hingegen, dass es ihr nicht sofort gelang.
    Nur anderthalb Meter trennten sie, und sie war aufmerksam auf ihn geworden, weil er mit dem Finger etwas auf die beschlagene Scheibe geschrieben und ihr sein Gesicht dabei direkt zugewandt hatte. Sie kannte das Gesicht, aber die Zahl lag im Verborgenen.
    Vielleicht war es die Spiegelung in der Scheibe, vielleicht der Schatten über seinen Augen. Sie wollte schon aufgeben, als ihre Straßenbahn sich langsam in Bewegung setzte, das Licht anders fiel und er den Blick hob und sie direkt ansah.
    Es durchfuhr Beate Lønn wie ein Stromschlag.
    Es war der Blick eines Reptils.
    Der kalte Blick eines Mörders, den sie kannte.
    Das war Valentin Gjertsen.
    Sie wusste nun auch,

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