Koma
steifgefrorener Leichen gesehen hatte, die wie alte, nutzlose Kleider von der Stange hingen, war ihr übel geworden. Und sie hatte sich geschworen, nie wieder einen Blick in den gespenstischen Raum zu werfen. Bis zu dieser Nacht war ihr das gelungen, aber jetzt lagen die Dinge ganz anders. Der »Kühlschrank« der Kadaver bedeutete ihre letzte Chance.
Im Anatomiesaal war es düster gewesen, aber in der Gefrierkammer brannte hinten eine einzelne 100-Watt-Birne und warf gräßliche Schatten an Decke und Wände. Susan versuchte, den direkten Blick auf die hängenden, grotesken Gestalten zu vermeiden. Die Kälte ließ sie zusätzlich schaudern. Sie überlegte fieberhaft. Sie wußte, ihr blieben nur wenige Augenblicke. Ihr Puls raste. Jeden Moment würde D’Ambrosio die Gefrierkammer betreten. Sie mußte sich einen Plan machen, aber woher die Zeit nehmen?
D’Ambrosio grinste zufrieden. Er ging einen Schritt zurück und trat gegen die Tür zum Anatomiesaal. Aber sie hielt stand. Mit der Faust schlug er eine der Milchglasscheiben ein und zog die Scherben heraus. Dann langte er durch die Lücke und öffnete die Verriegelung. Jetzt ging die Tür auf. D’Ambrosio sah sich um. Er wußte nicht, wo er war.
Um sicherzugehen, daß ihm sein Opfer nicht entwischte, schloß er die Tür wieder und rückte einen schweren Tisch davor. Er befand sich in einem großen Raum, etwa zwanzig Meter breit und über dreißig lang. Darin standen fünf Reihen von jeweils sieben verdeckten Tischen. D’Ambrosio ging zum nächststehenden und riß das Plastiktuch herunter.
Er rang nach Luft und spürte für einen Moment nicht einmal mehr seine gebrochene Rippe. Er starrte einer Leiche direkt in die Augen. Die Haut war vom Gesicht geschält, Zähne und Augäpfel lagen frei. Das Haar war mit dem Skalp vom Schädel gelöst und wie ein Stück Fell zurückgeklappt worden. Der größte Teil der Brust fehlte völlig, ebenso Magen- und Bauchdecke. Die Organe, die alle seziert worden waren, hatte jemand wieder in die klaffende Höhle gestopft.
D’Ambrosio lief zur Tür zurück, um das Licht einzuschalten. Dann überlegte er es sich anders. Der Saal hatte große Fenster, und die Wachmannschaft könnte leicht aufgescheucht werden. Nicht, daß er vor ein paar unerfahrenen Wächtern Angst gehabt hätte, aber er wollte sich Susan in Ruhe widmen.
Systematisch zog er die Plastikhüllen von allen Tischen. Er versuchte, die zerschnippelten Leichen zu ignorieren, wollte nur sicher sein, daß Susan nicht auf irgendeinem der Tische Zuflucht gesucht hatte.
Noch einmal sah sich D’Ambrosio im Anatomiesaal um. An der rechten Seite hingen mehrere Skelette an Ketten von der Decke. Sanft drehten sie sich im Luftzug, der durch das Öffnen und Schließen der Tür entstanden war. Hinter den Skeletten stand ein riesiger Schrank voller Glasbehälter zur Konservierung menschlicher Organe. Am Ende des Saales bemerkte D’Ambrosio drei Schreibtische und zwei Türen. Die eine Tür mochte in eine Gefrierkammer führen, die andere gehörte zu einem Wandschrank. Der Schrank war leer. Dann bemerkte D’Ambrosio den Stahldorn, der an der Kette vor der Gefrierkammertür herunterhing. Wieder mußte er grinsen. Er nahm die Pistole in die linke Hand, und mit der Rechten zog er die schwere Tür auf. Entsetzt prallte er zurück. Die baumelnden Leichen kamen ihm wie eine Armee von Monstern vor.
Der Anblick schüttelte sogar D’Ambrosio innerlich. Seine Augen flogen von einem Kadaver zum nächsten. Widerwillig trat er in die Gefrierkammer und spürte sofort die scharfe Kälte.
»Ich weiß, du bist hier drin, Schnecke! Komm doch raus, dann reden wir miteinander.« Seine Stimme brach. D’Ambrosio fühlte Beklemmung. Die Enge der Gefrierkammer, das war’s. Und die kalten Dreckskerle, warum grinsten die so widerlich? D’Ambrosio hatte sich noch nie so elend gefühlt.
Er spähte zwischen den ersten beiden Reihen tiefgefrorener Leichen hindurch. Vorsichtig machte er zwei Schritte nach rechts und blickte suchend die mittlere Reihe entlang. Jetzt sah er die Glühbirne an der Rückwand. Nach einem Blick über die Schulter zur Tür ging er noch ein paar Schritte nach rechts, um die letzte Reihe abzusuchen.
Susans Finger verloren langsam den Halt. Sie hing hinten in der zweiten Leichenreihe und hielt mit beiden Händen die Deckenschiene umklammert. D’Ambrosios Standort wurde ihr erst klar, als er zum zweitenmal von sich hören ließ.
»Nun komm schon, Süße. Will hier nicht erst lange
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