Koma
rumsuchen müssen.«
Susan wußte: D’Ambrosio stand vorn, an der äußersten Reihe. Jetzt oder nie, dachte sie. Mit aller Kraft, die sie noch aufbringen konnte, stieß sie ihre Füße der verschrumpelt wirkenden weiblichen Leiche vor ihr in den Rücken. Sie klammerte sich noch einmal fest an die Schiene, ließ die Füße an den Schulterblättern der alten toten Frau. Mit dem eigenen Rücken stemmte sie sich gegen die steinharte Brust der letzten Leiche in ihrer Reihe, eines Zweizentnermannes.
Zuerst kaum merklich setzte sich die gesamte zweite Leichenreihe nach vorn in Bewegung. Als der Anfangswiderstand überwunden war, konnte Susan mit den Füßen noch einmal kräftig nachstoßen, und das ganze Kadaver-Korps glitt voraus, wie Soldaten im geordneten Anmarsch.
D’Ambrosios Ohren fingen das Geräusch ein. Er stand einen Moment stockstill, wußte nicht, woher die eigenartigen Laute kamen. Dann wirbelte er mit katzenartiger Schnelligkeit herum und trat den Rückzug zur Tür an. Nicht schnell genug. Als er an der dritten Leichenreihe vorbei war, sah er, was sich da bewegte. Instinktiv hob er die Waffe und drückte ab. Aber sein Angreifer war bereits tot.
Mit erstaunlicher Schnelligkeit näherte sich ihm ein gespenstischer Mann von weißer Hautfarbe, die Lippen zu einem zufriedenen Halbgrinsen verzerrt. Und zwei Zentner menschliches Gefrierfleisch trafen den Killer wie ein Felsbrocken. D’Ambrosio flog mit dumpfem Krachen gegen die Kammerwand. Wie eine Lawine folgten die anderen Leichen, manche fielen von den Haken. Über D’Ambrosio häufte sich ein Kadaverberg mit einem Stahlnetz steifgefrorener Gliedmaßen.
Susan ließ sich von der Schiene auf den Boden fallen. Dann rannte sie auf die offene Tür zu. D’Ambrosio versuchte, sich von den Leichen zu befreien. Doch er hatte Schmerzen, und die menschlichen Eisberge lasteten schwer auf ihm. Der Gestank der Präparationsflüssigkeit bereitete ihm Übelkeit. Als Susan an ihm vorbeilief, versuchte er, sie zu packen. Dann nahm er alle Kraft zusammen, um seine Waffe freizubekommen und ihr eine Kugel in den Leib zu jagen. Aber die Waffe verfing sich in den starren Knorpelfingern einer Leiche.
»Verfluchte Scheiße!« schrie D’Ambrosio, und noch einmal stemmte er sich mit aller Gewalt gegen den Berg toten Fleisches. Aber Susan war schon durch die Tür verschwunden.
Die Tür schloß sich. D’Ambrosio saß jetzt aufrecht. Er stieß die gefrorenen menschlichen Körper rechts und links von sich und warf sich gegen die Tür, aber von draußen drückte Susan mit ganzer Kraft, und das Eigengewicht des schweren Metalls gab den Ausschlag, die Tür fiel zu. Der Riegel klickte. Drinnen langte D’Ambrosio nach dem Riegelknopf. Susan schlug ihn um Sekundenbruchteile. Der Dorn glitt in das Riegelloch.
Halb ohnmächtig richtete Susan sich auf. Sie hörte einen gedämpften Schrei. Dann einen dumpfen Schlag. D’Ambrosio schoß von innen in die Tür. Aber die war dreißig Zentimeter dick. Auch die weiteren Schüsse blieben wirkungslos.
Susan drehte sich um. Sie floh. Jetzt erst ging ihr das ganze Ausmaß der Gefahr auf, der sie entronnen war. Sie bekämpfte die Tränen, aber ihr Zittern konnte sie nicht unterbinden. Sie brauchte Hilfe. Wer konnte und wollte ihr helfen?
Donnerstag
26. Februar
2 Uhr 11
Beacon Hill lag in tiefem Schlaf. Als das Taxi von der Charles Street zum Mount Vernon einbog und bergauf in die Wohngegend fuhr, sah Susan weder Menschen noch Autos, nicht einmal Hunde. Selten brannte in einem Fenster Licht, und nur die Gaslaternen ließen ahnen, daß die Gegend überhaupt bewohnt war. Susan zahlte das Taxi, stieg aus und spähte nach beiden Seiten die Straße entlang, ob sie verfolgt wurde.
Nachdem sie D’Ambrosio in der Gefrierkammer entkommen war, hatten sich Susans Angstzustände keineswegs gelegt. Um alles in der Welt wollte sie nicht wieder in ihr Zimmer im Wohnheim zurück. Schließlich hatte sie keine Ahnung, ob D’Ambrosio allein arbeitete oder einen Komplizen hatte, und sie legte keinen Wert darauf, das herauszufinden. Sie war Hals über Kopf aus dem Anatomiegebäude gestürmt und am Verwaltungsbau vorbei auf die Huntington Avenue gelangt. Um diese Zeit hatte sie eine Viertelstunde gebraucht, um ein Taxi zu bekommen.
Bellows! Susan fiel niemand anders ein, den sie um zwei Uhr früh aus dem Bett klingeln konnte und der ihre Ängste verstehen würde. Aber sie hatte Sorge, verfolgt zu werden, und wollte Bellows nicht in Gefahr bringen. Als sie
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