Koma
hektische Betriebsamkeit. Terry Lindquist warf Susan einen flüchtigen Blick zu, ehe sie im Behandlungszimmer verschwand. Eine andere Schwester, deren Kappe mit einem leuchtend orangen Band verziert war, drückte Susan das Infusionstablett und die mit Flüssigkeit gefüllte Flasche in die Hand. Auf dem Namensschildchen las Susan: Sarah Sterns.
»Der Patient heißt Berman«, sagte Sarah Sterns. »Er liegt in 503. Um die Tropfgeschwindigkeit brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Ich komme gleich und reguliere das.«
Susan nickte und machte sich auf den Weg zum Zimmer 503. Auf dem Korridor besah sie sich die Bescherung auf dem Tablett: alle Arten von Nadeln, große, kleine, dicke, dünne, Venenröhren, Spritzen, dicke Gummischläuche zum Abbinden der Adern, Mullpäckchen, natürlich auch eine Taschenlampe. Susan versuchte sich auszumalen, wie oft sie wohl auf einsamen Nachtdienstwegen im kleinen Lichtkegel Infusionen würde anlegen müssen.
Die Zimmernummern zählten rückwärts: 507, 505. Als 503 drohend vor ihr aufragte, blieb Susan stehen und wühlte in dem Nadelhaufen auf dem Tablett, bis sie eine .21er in hellgelber Hülle fand. Vom Zusehen wußte sie, daß diese Nadeln bei Infusionen verwendet wurden. Zwar erschienen ihr auch die langen Ungeheuer verlockend, aber bei ihrer ersten Infusion wollte sie das Experimentieren doch lieber auf ein Minimum beschränken.
Es half nichts – auf der Tür vor ihr stand deutlich 503. Die Tür war einen Spalt geöffnet. Susan wußte nicht, ob sie anklopfen sollte. Sie blickte verlegen über die Schulter, um zu sehen, ob sie jemand beobachtete, und klopfte.
»Herein«, hörte sie eine Stimme von drinnen.
Mit dem Fuß stieß Susan die Tür auf, das Tablett in der linken, die Flasche in der rechten Hand. Sie trat ein und war auf den Anblick eines älteren, von Krankheit ausgezehrten Menschen gefaßt. Sie stand in einem der typischen Privatzimmer des Memorial: es war klein, alt und schäbig. Der Fußboden war mit quadratischen Vinylplatten ausgelegt, das Fenster verschmutzt und gardinenlos. In der Ecke stand ein Heizkörper, der augenscheinlich nur von seinen vielen Lackschichten zusammengehalten wurde.
Entgegen ihren Erwartungen war der Patient weder alt noch von Krankheit gezeichnet. In dem Bett mit hochgestellter Rückenstütze lag ein jüngerer Mann, offensichtlich bei guter Gesundheit. Susan schätzte ihn auf etwa dreißig. Der Mann trug das übliche Krankenhaushemd, das Laken reichte ihm bis zur Hüfte. Sein dunkles, außergewöhnlich dichtes Haar war zurückgebürstet und bedeckte die Ohrenspitzen. Er hatte ein schmales, intelligentes Gesicht und war trotz der winterlichen Jahreszeit braungebrannt. Eine große spitze Nase mit stark erweiterten Nasenflügeln vermittelte den Eindruck, als söge er ständig die Luft ein. Er sah athletisch aus, muskulöse Arme umschlangen die hochgezogenen Knie. Er rieb sich ununterbrochen die Hände, als wäre ihm kalt. Susan ahnte, daß der Mann hinter einem künstlichen Schild äußerlicher Ruhe seine Angst zu verbergen suchte.
»Nur nicht schüchtern, immer hereinspaziert! Hier geht es sowieso zu wie im Hauptbahnhof.« Berman grinste sie an, es war ein unstetes Grinsen. Ihr wurde klar, daß dem Mann, der auf seine Operation wartete, jede Unterbrechung nur allzulieb war.
Susan erwiderte das Lächeln, erlaubte sich aber nur einen kurzen Blick auf den Patienten. Sie schob die Tür bis auf den ursprünglichen Spalt zu, stellte das Tablett auf das Fußende des Bettes und befestigte die Flasche am Ständer über dem Kopfteil. Bewußt mied sie Bermans Blick. Warum, zum Teufel, dachte sie, mußte ihr erster Krankenhauspatient so jung, äußerlich gesund und offensichtlich hellwach sein? Sie hätte einen bewußtlosen Hundertjährigen bei weitem vorgezogen.
»Doch nicht noch ’ne Nadel!« rief Berman mit nur teilweise gespieltem Entsetzen.
»Ich fürchte, doch«, sagte Susan und packte einen Infusionsschlauch aus, den sie an die Flasche anschloß. Sie ließ etwas von der Flüssigkeit in den Schlauch laufen, bevor sie den Stöpsel befestigte. Nachdem sie diesen Teil der Arbeit verrichtet hatte, sah sie Berman an und merkte, wie er sie neugierig anstarrte.
»Sind Sie Ärztin?« fragte er ungläubig.
Susan ließ sich mit der Antwort Zeit und sah dem Patienten direkt in die dunkelbraunen Augen. Was sollte sie sagen? Sie war keine Ärztin, natürlich nicht. Und was wollte sie sagen? Natürlich, daß sie eine wäre. Aber Susan hatte eine
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