Komm mit mir nach Caracas
betrachtete, „dann ist es kein Ölzweig, sondern ein Ölbaum." Ungeduldig strich er sich durch das zerzauste Haar und schüttelte zerknirscht den Kopf. „Dios mio ... Was rede ich da eigentlich?"
In diesem Moment wirkte Raul ganz anders, und das beunruhigte sie. Noch immer betrachtete er sie eingehend und schien sich genauso unbehaglich zu fühlen wie sie, denn trotz seiner Sonnenbräune war er nun blass. Sie bot sich ihm sozusagen an, aber vielleicht wollte er sie ja gar nicht mehr.
„Offenbar bist du sehr lange geritten", bemerkte Polly schließlich, um das Schweigen zu brechen.
„Stimmt. Ich habe ... Nachbarn besucht." Raul presste die Lippen zusammen, und seine Miene verfinsterte sich, als er ins Bad ging. „Ich bin dreckig. Ich brauche eine Dusche."
Polly errötete und blickte ihm wie gebannt nach. Er verschwand aus ihrem Blickfeld, und sie hörte, wie er sich auszog.
Wie sollte sie sich bloß aus der Affäre ziehen, wenn er nicht einmal mehr mit ihr schlafen wollte?
„Vielleicht sollte ich lieber in mein Zimmer gehen", sagte sie leise.
Plötzlich war es ganz still.
Dann erschien Raul mit nacktem Oberkörper und barfuß auf der Türschwelle. Sein Haar war zerzaust und der Reißverschluss der Reithose, die beinah unanständig eng war, geöffnet. „Wie es dir lieber ist."
Verwirrt und bekümmert zugleich, blinzelte sie.
„Aber du kannst genauso gut hier schlafen", fügte er hinzu und zuckte gleichgültig die Schultern.
„Gut", brachte sie hervor und drehte sich auf die Seite. Mit Tränen in den Augen blickte sie nach draußen, wo es langsam hell wurde. Ihr weltgewandter, verführerischer und selbstsicherer Ehemann wollte keinen Olivenbaum, sondern versuchte sie loszuwerden. Und nun befand sie sich in einer Zwangslage, denn wenn sie aus dem Bett sprang und floh, würde sie wirklich dumm dastehen!
Als sie hörte, wie Raul das Wasser in der Dusche abstellte, schnitt sie ein Gesicht.
Dann wurde das Licht ausgeschaltet, und die Matratze gab auf der anderen Seite des Betts nach.
„Wenn du noch dichter am Rand schläfst, fällst du vielleicht raus", bemerkte er lässig.
„Ich will dir nicht im Weg sein!" erwiderte Polly scharf.
Er atmete hörbar aus. „Du brauchst keine Angst zu haben, gatita . Mir ist klar, dass ich ... rücksichtslos war."
Reglos lag sie da und versuchte zu ergründen, was er mit diesem Eingeständnis erreichen wollte.
„Natürlich möchte ich, dass du glücklich bist", fügte er unvermittelt hinzu.
„Tatsächlich?"
„Sicher. Warum erstaunt dich das?"
„Du möchtest das Beste für Luis", sagte sie mit bebender Stimme.
„Dios ... Als ich dachte, du wärst verschwunden, habe ich nicht einmal daran gedacht, nach unserem Sohn zu sehen!" Sein Tonfall bewies, dass es Raul erst jetzt bewusst wurde und er auch nicht besonders erfreut darüber war.
Du meine Güte, dachte Polly schockiert. Raul hatte tatsächlich zuerst an sie gedacht. Plötzlich hatte sie nicht mehr das Gefühl, dass er sie nur Luis' wegen tolerierte. Und sie war so dankbar dafür, dass sie gar nicht wissen wollte, wann dieser Sinneswandel stattgefunden hatte.
„Ich würde nicht wieder Reißaus nehmen, wie du es ausdrückst ", erklärte sie verlegen.
„Dass du Vermont verlassen hast, verzeihe ich dir, denn ich habe dafür Verständnis. Auch dass du die Klinik verlassen hast. All das gehört jetzt der Vergangenheit an."
Sie drehte sich wieder zu ihm um. „Trotzdem war es nicht einfach für mich, hierher zu kommen ..."
„Für mich ist es auch eine Herausforderung, querida ." Er nahm ihre Hand, die sie zur Faust geballt hatte, und zog Polly zu sich.
Ihr stockte der Atem, als Raul sie in die Arme nahm, und fasziniert betrachtete sie sein markantes Gesicht. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, ihr Herz raste, und gespannt wartete sie darauf, was er als Nächstes tun würde.
Als er ihr zärtlich mit einem Finger über die Lippen strich, seufzte sie auf und sah ihn einladend an. „Ich ... ich war vorhin nur nervös", gestand sie.
„Du hast schöne Augen. Das war das Erste, was mir an dir aufgefallen ist."
„In Vermont?"
„Ich habe dich schon vorher gesehen."
Polly krauste die Stirn. „Wo?"
„Erst habe ich dich auf einem Foto gesehen und dann bei meinem Anwalt - durch einen Spionspiegel. Ich war in dem Büro nebenan", gestand Raul ungerührt.
„Wie hinterhältig!"
„Vorsichtig", verbesserte er sie.
Seine Körperwärme übertrug sich auf sie, und Polly war sich seiner Nähe so deutlich
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