Komm, spiel mit mir: Thriller (German Edition)
würde er die Wahrheit ohnehin herausfinden. Und falls nicht, falls er ihr glaubt, wird er es sofort von Neuem versuchen wollen, und dann geht alles von vorn los. Das wird nicht passieren, das kann sie nicht. Aber genauso wenig kann sie ihm sagen, was sie getan hat. Die weiße Wiege, die gelb-weiße Überdecke, der Teddy. Nein. Nein. O Gott, nein.
Sie schließt die Tür, geht ins Badezimmer. Sie öffnet das Medizinschränkchen und fegt den Inhalt in ihre Handtasche. Sie geht in die Garage, setzt sich ins Auto und fährt los.
9.
S tephanie liebt die frühen Vormittage in ihrem Büro. Sie kocht sich eine große Kanne Kaffee und genießt die Stille, während sie den Computer hochfährt, die E-Mails überfliegt und sich an die Arbeit macht. Sie hat ihren Schreibtisch so aufgestellt, dass sie zum Fenster hinaus in den Park schauen kann. Fällt es ihr schwer, sich zu konzentrieren oder eine Entscheidung zu treffen, hebt sie den Blick und betrachtet die weiten Rasenflächen, die Rosenbeete.
Meistens sitzt sie bis um zehn hier, um Patientenakten zu lesen und die Medikamentierungen zu überprüfen. Sie informiert sich über die Zwischenfälle der vergangenen Nacht oder studiert die Daten der Patienten, die am Vortag eingeliefert wurden.
Auf ihrem Schreibtisch liegt eine neue Akte. Sie schlägt sie auf und liest sie langsam durch, wobei sie sich Stichworte auf dem großen Schreibblock notiert, den sie bei jeder Visite bei sich trägt. Elisabeth Anne Clark. Zweiundzwanzig Jahre alt. Nach vier Wochen aus dem städtischen Krankenhaus hierher verlegt, weil ihre Familie der Ansicht war, dass sie dort keine Fortschritte gemacht hat. Der Krankengeschichte ist ein Brief des Vaters beigefügt. Wir haben beschlossen, sie woanders in Behandlung zu geben, weil wir keine Verbesserung sehen. Während ihrer Zeit auf Station zehn ist nichts passiert, außer dass man ihr Medikamente verabreicht hat, die nicht gewirkt haben. Sie zieht sich ganz in sich selbst zurück.
Das glaubt Stephanie gern. Nicht, dass sie die Ärzte der Station zehn für inkompetent oder gleichgültig hielte; das Problem liegt in den Räumlichkeiten und den finanziellen Mitteln. Stephanie denkt an ihr Praktikum zurück, an die Patientenzimmer. Vierbettzimmer. Eine Magersüchtige, eine bipolar Gestörte (die in der manischen Phase versuchte, ihre Zimmerkolleginnen christlich zu missionieren), dazu eine Drogenabhängige nach dem Entzug und eine Depressive, die stundenlang reglos auf ihrem Bett zusammengerollt lag. Stephanie erinnert sich an das Gefühl. Was zum Teufel will ich hier? Wie zum Teufel soll ein Mensch hier gesund werden?
Es war ihre erste Stelle, und sie hatte sie voller Enthusiasmus angetreten, voller Ideale und Ideen. Aber nichts war möglich, der Umsetzung einer jeden Idee ging ein monatelanger Papierkrieg voraus, und am Ende wurde sowieso fast alles abgelehnt. Sie beobachtete die Patienten. Die hatten kaum mehr zu tun, als zu essen und darauf zu warten, dass die Wirkung der Medikamente einsetzte, um sie aus ihrem Tief zu holen. Bis zur nächsten Dosis jedenfalls.
Chronisch krank zu sein ermüdet, nicht nur die Patienten. Stephanie beobachtete die Angehörigen, die um die Betten herumstanden. Beim ersten Besuch waren sie noch hoffnungsvoll, sicher handelte es sich um einen Aussetzer, erschreckend zwar, aber heilbar, schließlich spielte sich alles nur im Kopf ab, nicht in der Wirklichkeit. Die Eltern, Freunde und Partner jener Patienten, die regelmäßig eingeliefert wurden, wirkten dagegen hilflos und resigniert. Sofern sie noch kamen. Diese Elisabeth kann froh sein, dass ihr Vater die Behandlung in der Privatklinik bezahlen kann; für manche Familien bedeutet sie der finanzielle Ruin, besonders, wenn der Aufenthalt sich in die Länge zieht. Sie kann froh sein, dass der Vater ihr helfen will; manche Angehörige tun lieber so, als sei nichts passiert, so wie seinerzeit Eltern ihre unverheirateten Töchter aufs Land schickten, bevor das uneheliche Kind zur Welt kam, um der Familie die Schande zu ersparen. Kein Zweifel, psychische Erkrankungen sind immer noch mit einem Stigma behaftet.
Sie überfliegt die Protokolle aus dem Krankenhaus. Wurde bewusslos in ihrem Auto entdeckt. Hatte Schlaftabletten, Aspirin, Antihistaminika und vermutlich alles andere, was im Medizinschränkchen war, genommen und mit Whisky runtergespült. War mit dem Auto in die Dünen gefahren, wo ein Jogger sie fand. Bewusstlos, vollgekotzt. Wahrscheinlich hat der Brechreiz ihr das
Weitere Kostenlose Bücher