Komm wieder zurück: Roman
Wurstbrote in der Küche aßen, als ihre Mutter mittags aufwachte und hereintaumelte. Seit Tagen hatte sie nicht geduscht. Sie unterrichtete nicht mehr. Sie rührte keinen Finger mehr im Haus. Alles hatte sie aufgegeben, nur nicht den Rückzug aus der Außenwelt. »Warum ist das Geschirr nicht gespült?«, lallte sie, halb erbost, halb kläglich.
Annie traf der Kummer wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das geschah ab und zu, wenn sie am wenigsten damit rechnete, zum Beispiel wenn sie auf der Suche nach einem Gummiring das Schweizer Messer ihres Vaters in der Schublade mit Krimskrams fand oder versehentlich ein Probefläschchen von seinem Kölnisch Wasser vom obersten Bord des Apothekenschränkchens stieß und es im Waschbecken zerbrach, sodass das ganze Badezimmer und der halbe Flur tagelang nach ihrem Vater rochen.
Jetzt kochte sie vor Wut, und das veranlasste sie zu der Bemerkung: »Ich wünschte, du wärest gestorben statt Daddy.«
Die Mutter fuhr hoch.
»Der wäre nicht so feige gewesen.«
Die Mutter schlug ihr ins Gesicht.
Es tat nicht annähernd so weh, wie man nach dem lauten Klatschen angenommen hätte.
Doch dann schnappte sich die Mutter ein Messer aus der Schublade, während sie jämmerlich stöhnte, was fast wie Weinen klang.
»Was machst du da!«, schrie Calder, und Annie war nicht sicher, ob er sie oder die Mutter meinte, da sein Blick immer zwischen ihnen immer hin und her flog.
Annie erstarrte. Ihre Hände waren bleiern, nutzlos. Sie befand sich jetzt an einem dämmerigen, unbekannten Ort, wo es sie nicht mehr kümmerte, ob einer von ihnen tot oder lebendig war.
Ihre Mutter stimmte ein erbärmliches Geheul an. Sie hielt das Messer in der Luft, als wollte sie sich die Klinge in die Brust stoßen. Sie plärrte wie ein Kleinkind und zitterte am ganzen Leib vor Frustration und Schmerzen. Calder sprang auf sie zu und entriss ihr das Messer, doch erst nachdem mehrere Teetassen zerbrochen am Boden lagen und sie alle beide auf die Scherben gefallen waren. Calder stand auf und schleuderte das Messer in die Spüle, während die Mutter in ihre blutigen Hände weinte.
Annie unternahm nichts. Calders Augen zwinkerten beim Anblick seiner eigenen verschrammten Hände und Arme. Er löste der Mutter die Finger von den Augen. Die Schnittwunden waren nur oberflächlich. Er wischte ihr Gesicht und Hände mit einem nassenGeschirrtuch ab, während sie Unverständliches murmelte. Dann hob er sie vom Fußboden auf. »Hilf mir, sie ins Wohnzimmer zu schaffen«, sagte er.
Annie funkelte ihn an.
»Mach schon!«, sagte er, und Annie setzte sich übertrieben widerwillig in Bewegung.
Ihre Mutter roch schwach nach Essig. Um ihre Augen herum klebten schmutzige Haarsträhnen. Sie packten sie in den Fernsehsessel und breiteten eine kratzige orangefarbene Afghan-Decke über sie, das Machwerk einer Cousine der Mutter, mit unregelmäßigen Fransen und dem missglückten Versuch eines blauen Sternenmusters. Die Mutter drehte sich auf die Seite und zog die Decke über ihr ganzes Gesicht. Winzige Bluttröpfchen perlten am wasserfesten Stoff ab.
Annie und Calder widmeten sich wieder den halb gegessenen Sandwiches in der Küche. Doch über allem – dem Tisch, den Schränken, dem Fußboden – hing noch die Erinnerung an Scherbenklirren und Schreie, erhitzte Wangen und die Art, wie sie dem Tod von der Schippe gesprungen waren –, denn dem waren sie alle, dachte Annie, unheimlich nahe gekommen. Sie stand auf und öffnete das Fenster über der Spüle. Sie ließ die Hände auf der Scheibe ruhen, während der Wind ihr den schmierigen Saum der einst weißen Gardine streichelnd über die Arme wehte.
»Was wäre, wenn Daddy noch leben würde?«, fragte Calder am Tisch hinter ihr.
Draußen bogen sich steife Palmen im Sturm und krachten aneinander. Annie starrte auf die Ranken des Muskatweins, die vom Spalier in alle Richtungen gekrochen waren, nur um den Blumenkasten zu überwuchern, den ihre Mutter einst mit Geranien bepflanzt hatte.
»Eins kann ich dir versichern«, bemerkte Calder nach der Stille. »Diesen hässlichen Afghanen hätte er nie in diesem Haus geduldet!«
Annie lacht wehmütig bei der Erinnerung. Sie wickelt sich die Decke enger um die kalten Füße. Sie denkt an ein Foto, das immernoch in der Diele ihres Elternhauses hängt. Das Erste, was man sieht, wenn man hereinkommt, ist ihre Mutter in Sandalen auf der roten Backsteinterrasse. Sie hält einen Krug mit Eistee in der Hand und lächelt ihr umwerfendes
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