Komm wieder zurück: Roman
als wäre dort ein riesiger Stein. »Ich will verdammt sein, wenn dieses Scheißding nicht bald platzt.«
Onkel Calder führte ihn zum Picknicktisch.
»Hast du schon mal so schlimme Kopfschmerzen gehabt?«, fragte er Onkel Calder und blinzelte, als wäre er von einem grellen Licht geblendet.
»Nein. Kann ich nicht behaupten.«
»Geh, Annie«, sagte ihre Mutter. »Du auch, Calder.«
Annie saß neben Calder auf der Bettkante und hatte den Hals ihrer Gitarre zwischen ihre Knie geklemmt. »Was meinst du?«, fragte Calder. Als sie nichts erwiderte, nahm er ihr Haar in seine Hände und flocht es so, wie sie es ihm vor Jahren beigebracht hatte, als sie immer Vater und Mutter und Friseur und Theater und Zoo gespielt hatten. Sie schloss die Augen und wünschte, sie könnte den ganzen Abend so dasitzen und sich von seinen Fingern die Locken von ihrer Kopfhaut drehen lassen, dass es in ihrem ganzen Körper sanft kribbelte. Doch sie schämte sich plötzlich, schämte sich wegen seiner Hände, als würde sie die Szene durch die Augen eines anderen von der Tür her betrachten, und es erschien ihr unziemlich. Es fühlte sich nicht richtig an. Sie waren keine kleinen Kinder mehr. Er sollte nicht mit ihrem Haar spielen. Sie sprang auf, und das Haar fiel ihr offen auf den Rücken.
»Was meinst du?«, fragte er. »Sollen wir unsere Sachen holen und da rausgehen?« Bevor sie antworten konnte, stand er schon auf und wühlte in seinem begehbaren Schrank.
Ihr wurde schwer ums Herz. Sie zupfte das tiefe E auf der Gitarre, starrte auf die düsteren braunen Kutschen und Pferde auf Calders Bettüberwurf und zeichnete mit dem Finger die Wagenräder nach.
»Was ist denn?«, fragte Calder, als er in seinem blauen Cowboyhemd mit den Perlmuttdruckknöpfen und weißer Schlingstichstickerei vorn an den Schultern wieder auftauchte. Er sah albern aus. Wie ein Junge, der so tat, als wäre er ein Mann.
Die Idee, nach draußen zu gehen und zu singen, schien jetzt dumm. Kindisch. »Findest du das nicht dumm?«, fragte sie ihn.
»Was?« Er drehte sich zum Kleiderschrank um. »Hast du irgendwo meinen roten Cowboyhut gesehen?« Er warf ihr den alten weißen Schal zu, und ihre Finger verfingen sich in der Spitze. »Da ist er ja!« Er zog seinen Hut hinter einer Jacke am Haken hervor. »Wovon redest du?«
Sie konnte nicht erklären, was sie empfand. Es war, als würde sie zum ersten Mal das Haus von anderen Leuten betreten. Sie kannte sich darin nicht aus. War unsicher, wie sie sich im Raum bewegen sollte. »Ich weiß nicht recht. Meinst du nicht, wir sind zu alt dafür?«
»Wie meinst du das? Johnny Cash ist älter als du und ich zusammen.« Er lächelte schief, ließ sich neben sie aufs Bett plumpsen und tätschelte ihr Knie. »Was meinst du, Spatz?« Er hörte sich genauso an wie Onkel Calder. Seine Beine waren länger als ihre, und wie er da so saß, vornüber gebeugt mit den Ellenbogen an den Knien, sah er so aus, als hätte er sich gerade von einem elfjährigen Jungen in einen Mann verwandelt.
Sie hängte sich den muffigen Schal um die Schultern und schlüpfte in ein Paar von Calders großen Cowboystiefeln. Dann gingen sie auf die Terrasse hinaus, und alle drehten sich um und klatschten, als wären sie richtige Musiker in einem Konzert.
Onkel Calder steckte zwei Finger in den Mund und zerriss die Luft mit einem Pfiff. »Ach, wie süß!«, sagte er und meinte Annie. »Wem gehören die Stiefel? Deinem Bruder? Herrgott, nun seht euch das doch mal an!«
Ihre Mutter lächelte, aber ihre Augen verengten sich, konzentriert, als wäre sie in Gedanken ganz woanders. Der Vater hob den Daumen, sein Lächeln war im schwachen Schein der Lichterkette kaum auszumachen. Die Mutter beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange, ihre Lippen blieben dort länger als sonst, als würdensie festkleben und sie darauf warten, dass er reagieren, reden, es bemerken würde. Er tat nichts dergleichen.
Onkel Calder warf einen Blick auf das Bild trauter Zweisamkeit und wandte sich rasch ab.
In diesem Moment spürte Annie etwas zwischen ihren Beinen. Ihre Mutter hatte sie vorgewarnt, hatte all die peinlichen Gespräche mit ihr geführt, alle anatomischen Einzelheiten erörtert. Dennoch dachte sie an jenem Abend, als sie der dumpfe Krampf im Bauch heimsuchte, dass sie sterben müsse. Ein warmes Rinnsal sickerte in ihren Schlüpfer. Sie wusste, es war ein Tropfen von ihrem eigenen Blut, und das machte alles nur noch schlimmer.
Ein Regentropfen fiel auf ihre Wimpern. Der
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