Komm wieder zurück: Roman
Sturm war so nah, dass sie den Erdboden im Wind riechen konnte. »Du merkst, wenn es kommt«, hatte die Mutter gesagt. »Man nennt es ›die Tage‹ oder ›Besuch von Tante Martha haben‹ und lauter so albernes Zeug, aber es ist deine Monatsblutung, Schatz, oder deine Periode, wenn du so willst, und es ist normal. Das bedeutet nur, dass du vom Mädchen zur jungen Frau wirst. Wenn du eine Frau bist, dann ist das etwas ganz Normales, was dir zeigen soll, dass du nicht schwanger bist, nicht mehr und nicht weniger.«
Annie senkte den Kopf und presste die Beine zusammen. Sie drückte Calders Hand, als sie an der weißen Hauswand standen.
»Aufgeregt?«, flüsterte er.
Sie drückte so fest, dass er aufschrie und sie losließ.
»Was hast du denn?«
Sie antwortete nicht. Die Geräusche der Nacht – Zikaden, Frösche, Wind – waren alle verklungen. Es herrschte Stille, eine
bedrückende
Stille, als wenn man darauf wartet, dass ein riesiger Feuerwerkskörper explodiert.
»Komm schon. Spielen wir. Eins, zwei, drei«, flüsterte er mit leicht verzerrtem Mund.
Ein Blitz zuckte wie ein Kurzschluss hinter den Wolken auf. Calder nahm wieder ihre Hand. Seine Schulter zuckte jetzt. »Wir müssen das nicht machen«, sagte er. »Es stört keinen, wenn wir nicht spielen.«
Noch mehr Blut sickerte, mehr warm als nass.
»Erzähl mir, was los ist«, sagte Calder.
Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, dass Dinge anders sein konnten, als sie schienen, sogar das Gegenteil von dem, was jemand glaubte. Plötzlich war die ganze Welt als Lüge entlarvt, der Vorhang des Zauberers aufgezogen. Und es zeigte sich, dass das Barbecue und der Sturm, das Familientreffen und die Musik, die sie jetzt spielen wollte, aus vielen Schichten von etwas völlig anderem bestand. Es steckte mehr hinter dieser Geschichte. Selbst ihr eigener Körper spaltete sich innerlich, verwandelte sich unmittelbar vom Mädchen zur Frau, während sie da stand und für alle Welt wie ein Kind aussah.
»Ich weiß nicht, ob ich spielen kann«, flüsterte sie.
»Na, ich weiß das jedenfalls«, sagte Calder. »Spielt das denn eine Rolle?« Er sah sie so an, wie er jeden Morgen die Reihe von Topfpflanzenstecklingen an seinem Zimmerfenster ansah, mit erwartungsvollem Blick.
Sie erinnerte sich, wie sie sich einmal um den Fernseher gestritten hatten. Es sah ihnen nicht ähnlich, es so auf die Spitze zu treiben, doch diesmal wurde es ernst, und es kam zum handfesten Streit. Ein reich besticktes Daunenkissen war aufgeplatzt, und Federn flogen wie Schneeflocken im Zimmer herum. Bei dem Anblick wurden beide ganz still, als wäre es tatsächlich Schnee, etwas, das sie nie gesehen hatten. Die Mutter stürzte herein und brüllte sie an wegen des Kissens, das sie von ihrer Großmutter hatte. Dann befahl sie den beiden, sich zu setzen, und sagte: »Lange nachdem euer Vater und ich tot und begraben und all die Menschen aus eurem Leben verschwunden sein werden, wer ist dann eurer Meinung noch übrig? Wer kümmert sich dann eurer Meinung nach bis zu eurem Sterbetag um euch?« Sie sah sie einzeln an. Dann zog sie eine Feder aus Calders Haar, blies eine andere weg, die in die Nähe ihres Gesichts geflogen war. Mehr musste nicht gesagt werden.
Annie schlug viermal das D an. Sie sah, wie Calder mit dem Fuß auf die Steinplatten tappte, und sie spürte ein Kribbeln in der Kopfhaut. Sie wechselte zum G, dann blickte sie hoch und sah, wiesich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Das hier singst du allein«, flüsterte sie. Er nickte, und eine hübsche kleine Melodie breitete sich in ihr aus.
»
I went down to the river to watch the fish swim by!
«, sang Calder, ohne jeden Tic, das Kinn nach oben gereckt, während er mit den Fingern schnippte. »
But I got down to the river, so lonesome I wanted to die … Oh Lord!
«
Annie trat beiseite, um ihm Platz zu machen, und als sie auf die Terrasse sah, war der Vater in den Schatten der Birke verschwunden, ausgeschnitten wie aus einem Foto. In dem Moment erkannte Annie, wie hilflos sie sich alle seinetwegen fühlten, besonders die Mutter. Calder und Annie waren nur Kinder, klein und unerfahren und darum fast hilflos, doch die Mutter war eine erwachsene Frau und nicht irgendeine beliebige. Sie war klug und erfolgreich, eine Lehrerin, die sehr genau wusste, wie die Welt funktionierte. Warum bot sie ihm nicht Paroli? Warum bestand sie nicht darauf, im Interesse aller, dass er sich ärztlich behandeln ließ?
»
And then I jumped
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