Komm wieder zurück: Roman
vergraben hat, schwimmt an die Oberfläche.
Ihre Mutter, jung und lächelnd im blauen übergroßen Sessel, der in der Ecke bei der Stehlampe mit der Schnur steht. Sie sieht von dem großen Buch auf ihrem Schoß auf, und wie so oft in jenen Jahren füttert sie Annie mit allen möglichen Wissensfetzen. Sie erzählt ihr, wie Frauen früher mit Dingen wie
schlechten Säften, Hysterie
und
Nostalgie
diagnostiziert wurden. Ärzte verordnetenihnen, draußen in der Sonne zu sitzen. Die Kur war frische Luft und Sonne. Frische Luft und Sonne ist etwas, das ihre Familie fast jeden Tag in ihrem Leben gehabt hat. »Es ist wie eine Krankenversicherung«, sagt ihr Vater, der gerade mit einem schmierigen Autoteil in den Händen hereinkommt. Calder folgt ihm mit Werkzeug. »Wir sind davon so vollgetankt«, fährt ihr Vater fort, »wir können etwas davon in uns für die Hurrikan-Saison aufheben.« Die Mutter sagt lächelnd: »Demnach dürften wir wohl nie psychisch werden.« Sie lacht so friedlich und bleckt dabei das strahlend weiße Gebiss. Dabei sieht sie den Vater an, und die beiden stecken die Köpfe zusammen für ein Küsschen im blassgelben Lichtkegel.
Aber so war das gar nicht. Das ist nicht die reale Erinnerung. Das ist die, die Annie sich ausgedacht hat.
Ihr Leben lang war es ihr gelungen, jenen Nachmittag in ihrem Kopf zu verdrehen und Onkel Calder in ihren Vater zu verwandeln. Sie hatte Onkel Calder gesehen, wie er sich über die Mutter beugte, um sie zu küssen. Ihr Vater war später mit Ersatzteilen und Calder im Schlepptau hereingekommen, und in Wirklichkeit sagte ihre
Mutter
das von der Sonne und der frischen Luft und ihr
Vater
das mit der Versicherung. Aber einen Kuss hatte es nicht gegeben, zumindest nicht zwischen ihren Eltern. Onkel Calder, der mit ihm zusammen an dem Wagen gearbeitet hatte, war derjenige, der hereinspaziert war und die Mutter geküsst hatte, nachdem der Vater gekommen und wieder gegangen war. Und Annie saß auch gar nicht da, als sie sich küssten. Sie wollte gerade das Zimmer betreten, aber als sie sah, was passierte, hielt sie den Atem an, huschte wieder hinaus und bog sich den ganzen Vorfall so in ihrem Kopf zurecht, dass er mehr Sinn ergab. Ihr Vater war der Mann, der die Mutter geküsst hatte. Er war der einzige Mann, den ihre Mutter geküsst hätte.
Das Bier ist sofort durch sie hindurchgeflossen. Es fühlt sich ein bisschen wie Schwimmen an, als sie sich einen Weg zur Toilette bahnt. Ihre Hände hält sie vor sich ausgestreckt, die Hände ihrer Mutter, schlank und voller Adern, auf der Suche nach etwas, an dem sie sich festhalten kann. Die Männer tippen grüßend an die Mütze, als sie vorbeikommt. Kavaliere der alten Schule.
Ein Teller mit warmem Maisbrot steht dampfend auf dem Tisch, als sie mit heftigen Augenschmerzen zurückkehrt. Warum in aller Welt machte sich Onkel Calder ausgerechnet an den einen Menschen heran, den er nicht haben durfte? Und warum hätte ihre Mutter einen Mann betrügen sollen, der sie so sehr liebte wie Annies Vater? Warum sollte sie den Vater überhaupt betrügen, wo sie ihn doch so sehr liebte, dass sein Verlust auch sie fast umgebracht hätte?
Kein Wunder, dass Annie an jenem Morgen Owen nicht bei Tisch zur Rede stellte. Kein Wunder, dass sie ihm
Eggs Benedict
machte und so tat, als wäre alles gut. Im Verdrängen hatte sie bereits Erfahrung, im Mundhalten, im Zurechtbiegen der Realität seit dem Tag, als sie ihre Mutter und ihr Onkel sich im Schein der Lampe küssen sah.
Sie denkt an Owens Hände zwischen seinen Knien, seine wippenden Füße auf dem Boden. Zweifel beschleichen sie. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn wegzuschicken. Sie hatte nur auf die Nachrichten reagiert. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es scheint, wenn sie erst Gelegenheit findet, darüber nachzudenken.
Sie holt tief Luft und dreht sich zu dem Waldboden voller riesiger Taroblätter um, die sich wie flaumige Herzen überallhin verstreuen. Die Baumwipfel sind verbogen und miteinander verwoben, ein Blätterdach aus erdigem Braun, Grün und Weiß. Sie ist den Tränen nahe und fühlt sich fehl am Platz, eine Frau, die sich vor Nostalgie verzehrt, eine Frau, Jahre entfernt von allem und jedem, das ihrem Leben je einen Sinn gegeben hat.
Tränen schießen ihr so plötzlich in die Augen und laufen ihr in den Mund, bevor sie sie wegwischen kann. Der Salzgeschmack lockert etwas in ihren Schultern. Ihr Mund klappt auf, und sie weiß nicht, ob sie lacht oder weint. Sie beugt
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