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Komm zurück, mein dunkler Bruder

Komm zurück, mein dunkler Bruder

Titel: Komm zurück, mein dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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meines Heims zu fliehen.
     
    Am nächsten Nachmittag saß ich in meinem Kabuff und tippte einen Bericht über einen sehr langweiligen Mehrfachmord. Selbst in Miami gibt es gewöhnliche Morde, und dieser gehörte dazu – oder, um präzise zu sein, diese drei und ein halber, da drei Körper in der Pathologie lagen und einer auf der Intensivstation des Jackson Memorial. Es handelte sich um einen simplen Überfall aus dem fahrenden Wagen in einem der wenigen Gebiete der Stadt mit niedrigen Grundstückspreisen. Es bestand wirklich kein Grund, einen Großteil meiner Zeit damit zu verschwenden, da es jede Menge Zeugen gab und sie alle einhellig aussagten, jemand namens »Motherfucker« sei der Täter gewesen.
    Dennoch, die Form muss gewahrt bleiben, und deshalb hatte ich den halben Tag am Tatort verbracht, um mich zu vergewissern, dass niemand aus einem Eingang gesprungen war und die Opfer mit einer Heckenschere bearbeitet hatte, während sie aus einem fahrenden Auto erschossen wurden.
    Ich versuchte mir gerade eine interessante Formulierung dafür einfallen zu lassen, dass die Blutspuren zu Gewehrschüssen aus einem fahrenden Wagen passten, doch die Langeweile brachte mich fast zum Schielen, und während ich leer auf den Bildschirm starrte, vernahm ich ein anschwellendes Klingen in meinen Ohren, das sich in Gongschläge verwandelte, und dann setzte die Nachtmusik ein, und das glatte Weiß der Textdatei schien plötzlich von Blut überströmt, das auf mich spritzte, mein Büro überschwemmte, die ganze sichtbare Welt ertränkte. Ich sprang von meinem Stuhl auf und zwinkerte einige Male, bis es verschwand. Doch blieb ich zitternd zurück und fragte mich, was soeben geschehen war.
    Es hatte begonnen, mich am helllichten Tag zu überfallen, sogar an meinem Schreibtisch im Polizeihauptquartier, und das gefiel mir überhaupt nicht. Entweder wurde es immer stärker und rückte immer näher, oder ich ging über die Klippe und versank im Wahnsinn. Schizophrene hören Stimmen – hören sie auch Musik? Und galt der Dunkle Passagier als Stimme? War ich schon die ganze Zeit vollkommen verrückt gewesen und erlebte nun einfach eine Art finale Episode in der künstlichen Gesundheit des Dubiosen Dexter?
    Ich hielt das für ausgeschlossen. Harry hatte mich in den Griff gekriegt, dafür gesorgt, dass ich mich anpasste – Harry hätte gewusst, wenn ich verrückt wäre, und er hatte mir versichert, dass ich es nicht war. Harry irrte sich niemals. Damit war das geklärt, es ging mir gut, sehr gut, vielen Dank.
    Warum hörte ich dann aber die Musik? Warum zitterten meine Hände? Und warum musste ich mich an einen Verstorbenen klammern, um zu verhindern, dass ich mich auf den Boden setzte und mit dem Zeigefinger gegen meine Lippen schnipste?
    Es war eindeutig, dass kein anderer im Gebäude etwas gehört hatte – nur ich. Sonst wären die Flure voller Menschen, die entweder tanzten oder kreischten. Nein, Furcht war in mein Leben gekrochen, schlich rascher hinter mir her, als ich laufen konnte, erfüllte die riesige Leere in meinem Inneren, in der es sich einstmals der Passagier gemütlich gemacht hatte.
    Ich hatte nichts mehr, mit dem ich weitermachen konnte; ich benötigte Informationen von außen, wenn ich das hier begreifen wollte. Viele Quellen hielten Dämonen für real – Miami war voll von Leuten, die jeden Tag ihres Lebens schwer schufteten, um sie fernzuhalten. Und auch wenn der Babalao gesagt hatte, er wolle nichts mit der Angelegenheit zu tun haben, und sich so rasch wie möglich entfernt hatte, schien er doch gewusst zu haben, worum es sich handelte. Ich war ziemlich sicher, dass die Santería Besessenheit berücksichtigte. Wie auch immer: Miami ist eine wunderbare, vielfältige Stadt, und ich würde mit Sicherheit eine andere Stelle finden, der ich diese Frage stellen konnte, und eine vollkommen andere Antwort erhalten – vielleicht sogar die, nach der ich suchte. Ich verließ mein Kabuff und begab mich zum Parkplatz.
    Der Baum des Lebens befand sich am Rand von Liberty City, einer Gegend Miamis, die Touristen aus Iowa lieber nicht nachts besichtigen sollten. Diese spezielle Ecke war von Einwanderern aus Haiti übernommen worden, und viele Gebäude waren in mehreren leuchtenden Farben gestrichen, als wäre nicht genug von einer Farbe vorrätig gewesen. Einige zeigten Wandmalereien, die das ländliche Leben Haitis thematisierten. Hähne schienen besonders häufig vorzukommen, und Ziegen.
    Auf die Außenwand des Baums des

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