Komm zurück, mein dunkler Bruder
Selbstverständlich war das unfair; ich hatte nicht mehr verbrochen, als von der Arbeit nach Hause zu kommen. Doch wie ich bei mehr als einer Gelegenheit bemerkt habe, das Leben ist ungerecht und es gibt keine Beschwerdestelle, deshalb können wir die Dinge auch gleich so akzeptieren, wie sie sind, den Schlamassel aufputzen und weitermachen.
Was ich auch versuchte, obwohl ich es für vergeblich hielt. »Ich bin überzeugt, dass es eine Erklärung dafür gibt«, sagte ich, und sofort begann Astor zu strahlen und heftig zu nicken.
»Es war Zufall«, beharrte sie fröhlich.
»Niemand fesselt
zufällig
eine Katze an eine Werkbank und steht dann mit einer Heckenschere davor«, blaffte Rita.
Ehrlich gesagt wurde die Sache allmählich ein bisschen kompliziert. Einerseits war ich hocherfreut, endlich genau zu wissen, worin eigentlich das Problem bestand. Doch andererseits schienen wir uns auf einem Gebiet zu tummeln, das in gewisser Weise schwer zu erklären sein mochte, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass es Rita vermutlich besser bekam, wenn sie weiterhin in Unkenntnis dieser Dinge verharrte.
Ich hatte geglaubt, Cody und Astor hätten sich einverstanden erklärt, nicht solo zu fliegen, bis ich ihnen den Gebrauch ihrer Schwingen beigebracht hatte. Doch hatten sie es offensichtlich vorgezogen, das zu ignorieren, und obgleich ihr Handeln einige sehr befriedigende Konsequenzen für sie nach sich zog, blieb es noch immer mir überlassen, sie da rauszuholen. Wenn sie nicht einsehen wollten, dass sie das auf gar keinen Fall wiederholen durften – und den Harry-Pfad nicht verlassen durften, auf den ich ihre Schritte gelenkt hatte –, würde ich sie nur zu gern endlos im Regen stehen lassen.
»Ist euch klar, dass das, was ihr getan habt, falsch war?«, fragte ich sie. Sie nickten einstimmig.
»Wisst ihr, warum es falsch war?«
Astor wirkte sehr verunsichert, sie warf Cody einen Blick zu, dann platzte sie heraus: »Weil wir erwischt worden sind.«
»Das meine ich, siehst du«, sagte Rita, in deren Stimme sich ein hysterischer Ton schlich.
»Astor«, mahnte ich, während ich sie eindringlich ansah und nicht wirklich zwinkerte. »Das ist der falsche Zeitpunkt für Witze.«
»Freut mich zu hören, dass jemand das witzig findet«, sagte Rita. »Ich zufällig nicht.«
»Rita«, sagte ich mit aller Gelassenheit, die ich aufbringen konnte, und dann fuhr ich mit der geschmeidigen Durchtriebenheit, die ich mir in meinen Jahren als scheinbar menschlicher Erwachsener zugelegt hatte, fort: »Ich glaube, dies könnte einer der Augenblicke sein, über die Reverend Gilles gesprochen hat. Ich muss sie unterweisen.«
»Dexter, die beiden haben gerade – ich kann es mir kaum vorstellen – und du …«, stammelte sie, und obgleich sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen, freute ich mich, dass ihre alten Sprachmuster zurückkehrten. Glücklicherweise sprang mir gerade rechtzeitig eine alte Filmszene ins Gedächtnis, und ich wusste genau, was ein echter Mensch jetzt tun würde.
Ich trat zu Rita und legte ihr mit meiner besten ernsten Miene eine Hand auf die Schulter.
»Rita«, sagte ich und war sehr stolz, wie gravitätisch und männlich meine Stimme klang, »du steigerst dich zu sehr hinein und lässt zu, dass deine Gefühle dein Urteil beeinträchtigen. Die beiden brauchen eine dauerhafte Perspektive, und die kann ich ihnen geben. Immerhin«, sagte ich, als mir die Zeile einfiel, und freute mich, dass ich nicht einmal ins Stocken geriet, »muss ich von jetzt an ihr Vater sein.«
Ich hätte wissen müssen, dass diese Bemerkung Rita vom Kai ins Meer der Tränen stürzen würde; und so kam es dann auch, denn direkt, nachdem ich es gesagt hatte, begannen ihre Lippen zu zittern, der Zorn schwand aus ihrer Miene, und Bächlein strömten über beide Wangen.
»In Ordnung«, schluchzte sie, »bitte, ich – rede einfach mit ihnen.« Sie schniefte laut und eilte aus dem Zimmer.
Ich gestattete Rita ihren dramatischen Abgang und ließ einen Moment verstreichen, damit er sich festsetzte, ehe ich wieder um das Sofa herum ging und auf meine beiden Schurken hinunterstarrte. »Nun«, sagte ich, »wie war das mit: Wir schwören, wir haben es begriffen, wir werden warten?«
»Du brauchst zu lange«, nörgelte Astor. »Außer heute haben wir nichts getan, und abgesehen davon hast du nicht immer recht, und wir glauben, dass wir nicht länger warten müssen.«
»Ich bin so weit«, sagte Cody.
»Ehrlich«, sagte ich.
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