Kommissar Joakim Hill - 01 - Die zärtliche Zeugin
kam ihr umständlich vor. Überall war es schmutzig, staubig und laut. Davon verging ihr regelrecht der Appetit.
Es war wesentlich angenehmer, einfach irgendwo in ein Restaurant zu gehen, sich hinzusetzen und zu bestellen. Ihre bisherige Kost, Fleischwurst und Bratkartoffeln, kam ihr inzwischen ungesund und dürftig vor. Wenige Wochen hatten genügt, und sie hatte entdeckt, dass es auf der Welt mehr kulinarische Genüsse gab, als sie je geahnt hätte.
Sie bestellte die besten Gerichte, ohne sich über den Preis und die Kalorien Gedanken zu machen, genoss jeden Bissen und beendete das Mahl mit einem Cappuccino oder einem fruchtigen Sorbet. Die unglaubliche Vielfalt des Lebens überraschte sie ständig angenehm aufs Neue und sie bejahte sie uneingeschränkt.
Satt und zufrieden hatte sie eines Tages sogar beschlossen, sich neu einzukleiden. Die Besitzerin einer Tankstelle musste schließlich standesgemäß aussehen.
Für einen Mantel, Schuhe und diese neuartigen Jeans hatte sie einiges ausgegeben. Strechtjeans hießen sie und waren fast sexy. In ihnen gefiel sie sich besser als in ihrem alten Blaumann.
Mit jedem erfolgreichen Tag gefiel sie sich besser. Sogar so viel besser, dass sie sich etwas kaufte, wonach sie sich heimlich seit Jahren gesehnt hatte.
Ein Negligé.
Ein herrliches Negligé aus champagnerfarbenem Satin, weißer Spitze am Ausschnitt und einem Jäckchen für die Schultern. In aller Einsamkeit hatte sie seit dem Kauf jeden Abend ihren heimlichen Traum angezogen. Sie hatte das Gefühl, das Glück lächle sie endlich an. Im Glücksrausch ließ sie sich von einem Tom-Jones-Lied im Radio mitreißen.
Da kam sie auf den Gedanken, dass ein kleines Glas Wein den Abend perfekt machen würde.
Weißwein war ihre neueste Entdeckung, was die facettenreichen Annehmlichkeiten des Lebens anging. Jeden Abend gönnte sie sich jetzt ein Glas, denn schließlich hatte sie so unglaublich viel nachzuholen.
Mit ein paar Tanzschritten bewegte sie sich auf die Diele zu, in der auch ihre winzige Küche war. Sie summte den Refrain und sah, wie der champagnerfarbene Stoff einen weiten Bogen beschrieb.
Da packte sie plötzlich das kalte Grausen. Sie hatte das Gefühl, in einen tiefen Abgrund zu stürzen.
Sprachlos starrte sie auf die drei Männer, die sie mit eiskaltem Blick vom Windfang aus beobachteten.
Der Kilometerzähler fraß einen Kilometer nach dem anderen, aber nach Hills Geschmack nicht schnell genug. Er trat nicht aufs Gaspedal, sondern hing an ihm mit einem verbissenen Gesichtsausdruck.
Auf dem Autobahnstück waren sie gut vorwärts gekommen, aber dahinter kamen wieder Landstraßen, die in den sechziger Jahren für ein wesentlich geringeres Verkehrsaufkommen gebaut worden waren. Der Verkehr der neunziger Jahre sah ganz anders aus, und die Planungen der vergangenen Zeit kollidierten gnadenlos mit dem hektischen Rhythmus der modernen Verkehrsströme.
»Du – sollten wir nicht irgendwo essen?«, wollte Sahlman auf einmal wissen.
»Essen?«, erwiderte Hill verwirrt.
»Ja, ich habe einen Mordshunger. Und außerdem sollten wir bei Kräften bleiben«, meinte Sahlman.
»Sorry«, erwiderte Hill knapp. »Kein Essen.«
»Was? Kein Essen? Und wie stellst du dir vor, soll ich den Abend im Dienst überstehen, wenn ich nichts in den Bauch bekomme?«
Hill antwortete nicht, sondern fuhr nur noch schneller. Auf einer Straße, auf der man neunzig fahren durfte und die außerdem glatt war, fuhren sie fast hundertdreißig. Sahlman gefiel das überhaupt nicht. Er hatte gehofft, dass Essen seinen Kollegen beruhigen würde.
Der Regen hatte nachgelassen, aber das schien Hill ebenfalls nicht weiter zu beruhigen, im Gegenteil.
»Denk an deine Figur«, meinte Hill unerwartet.
»Wie bitte?«
»Ja, denk daran, dass du den Anzug länger tragen kannst und dass er außerdem besser sitzt, wenn du auf diese extra Kalorien verzichtest.«
Daran hatte Sahlman nicht gedacht, aber Hill hatte zweifellos Recht. Er reckte sich auf dem Sitz und glättete umständlich den Stoff seines Jacketts.
»Außerdem«, meinte Hill und musste all sein Geschick darauf verwenden, eine scharfe, regennasse Kurve zu bezwingen, die plötzlich aufgetaucht war, »außerdem habe ich so ein Gefühl.«
»Und zwar was?«
»Dass wir es verdammt eilig haben!«
Das champagnerfarbene Nachthemd riss und fiel kläglich zu Boden – zusammen mit dem Traum von ihrem frisch gewonnenen, schönen Leben.
Das Messer, das die mit Spitze verzierten Achselbänder
Weitere Kostenlose Bücher