Kommissar Joakim Hill - 01 - Die zärtliche Zeugin
in einem fremden Land alles auf eine Karte zu setzen. Und außerdem noch einen Intensivkurs in diesem unschönen Rotwelsch über sich ergehen lassen mussten! Es war ihm nicht gerecht erschienen, dass man das von ihnen verlangte, zumal sie sich untereinander natürlich weiterhin der lettischen Sprache bedienten.
»Bernard Valmera«, hatte ihm Alexej Igorin geantwortet, »es gibt keine Gerechtigkeit. Gerechtigkeit und Fair Play gibt es nur im Märchen. Das Einzige, was man bekommt, ist das, was man sich selbst nimmt.«
Und sie hatten Schweden genommen.
Aber woran hatte er soeben gedacht? Richtig, an den Tankwart! Dass dieser Idiot sich nur eine Sekunde eingebildet hatte, er könne üppige Schecks in die Heimat der würzigen Erdnüsse schicken -jeden Monat!
Susanna fand fast sofort einen ganzen Stapel der dünnen, halb unleserlichen Einzahlungsbestätigungen, die ganz offen in einer Schreibtischschublade in Sten Anderssons Wohnzimmer lagen.
In einer Schreibtischschublade in einem Schreibtisch der gewöhnlichsten Art in einer Wohnung, die sich in nichts vom normalschwedischen Standard unterschied. Ein klaustrophobisch kleines Schlafzimmer, eine winzige Küche und eine Fernsehkammer, die unter der beschönigenden Bezeichnung Wohnzimmer lief. Hill und Susanna bewegten sich in der Wohnung mit dünnen, weißen Baumwollhandschuhen und vorsichtigen Schritten, als würden sie erwarten, jeden Moment auf ein Gespenst oder etwas Übernatürliches zu treffen.
Aber nichts Ungewöhnliches fiel ihnen auf, mit Ausnahme der überwiesenen Summen. Ungläubig kontrollierte Susanna diese noch ein weiteres Mal, ohne dass sich das erstaunliche Resultat veränderte.
Zusammengenommen handelte es sich um eine enorme Summe, weitaus mehr als der Ermordete jemals versteuert hatte, wie ihnen das Finanzamt bestätigte. Oft spielte die Steuerbehörde eine bedeutende Rolle bei Ermittlungen der Kriminalpolizei, die höchst inoffiziell über eine direkte Leitung ins heimlichste Archiv der Steuereinnehmer verfügte.
»Wenn man doch nur so viel Zaster hätte!«, rief Susanna mit verständlichem Neid in der Stimme.
»Aber er hat ja das Geld weitergeleitet, nicht wahr?«, wandte Hill ein. »Es hat nicht den Anschein, als hätte er sich mehr als nur das Allernötigste gegönnt.«
»Hm, schau mal hier. Die Beträge sind alle nach Idaho in den USA überwiesen worden, und zwar meist über verschiedene Banken.«
»Das wundert mich nicht.«
»Steuerhinterziehung?«
»Nein«, meinte Hill, während er einen vorsichtigen Blick in die Küchenschränke warf, »das glaube ich nicht.«
Sie sah ihn fragend an.
»Er hatte eine Schwäche für jemanden in Idaho«, erklärte er.
»Eine Frau?«
»Nein, einen Sohn, ein richtiges Kuckucksei, wenn du mich fragst.«
Er kehrte zum Schreibtisch zurück und betrachtete die Belege noch ein weiteres Mal. Als könnte sich ihm jetzt plötzlich etwas Entscheidendes in Flammenschrift enthüllen, wenn er nur lange genug auf die Papiere starrte. Aber nichts geschah.
»Hier hast du jedenfalls ein Motiv«, sagte Susanne und schaute sich in der traurigen kleinen Wohnung weiter um.
»Ja, Geld. Nach Eifersucht das gängigste Motiv. Aber was ist das eigentlich für Geld? Wie ist er nur an solche Beträge gekommen?«
»Das würde ich auch gerne mal wissen.«
Er wünschte sich, dass sie auch über diese Sache hätten Witze machen können so wie vorhin draußen auf dem Parkplatz. Dann wäre es ihm leichter gefallen, in den privaten Dingen des Toten herumzuwühlen. Aber sie waren beide ernst geworden, als hätten sie gleichzeitig geahnt, dass sie hier über eine unerfreuliche Wahrheit gestolpert waren.
Obwohl sie noch nicht sehen konnten, wie diese Wahrheit eigentlich aussah, waren sie bereits überzeugt davon, dass sie ein ganz anderes Bild des gutmütigen und vorbildlichen Tankwarts Sten Andersson ergeben würde.
Susanna hatte sich inzwischen den Schubladen der Kommode zugewandt und wühlte jetzt zwischen der Unterwäsche des Toten. Alles sehr sauber.
»Du … was zum Teufel ist das hier?«, fragte sie plötzlich.
Sie hielt einen kleinen Kasten aus Metall – nicht größer als eine Fernbedienung, aber vielleicht eine Idee dicker – in das schwächer werdende Licht des Nachmittags, das kaum durch die schmutzigen Fenster des Wohnzimmers drang.
»Tja, das ist eine gute Frage. Sieht aus wie …? Nein, ich weiß nicht!«
Er nahm den Gegenstand in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten.
»Nein, keine Ahnung«,
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