Kommissar Morry - Der Judas von Sodom
der Kollege von der Strompolizei. „Sie ist doch nicht das erste Mädchen, das wir aus der Themse holten. Früher glaubten wir immer, diese leichtfertigen Dinger hätten aus Liebeskummer oder sonst einem Grund den Freitod gewählt. Trifft diese Annahme auf einmal nicht mehr zu?“ „Nein“, sagte Morry hart. „Damit ist es vorbei. Weder Kate Hugard noch Stephanie Malet hätten ihr Leben jemals freiwillig fortgeworfen. Sie wurden ermordet.“
Inspektor Rhonda tauchte an dem düsteren Schauplatz auf. Er hatte eben die Mordkommission alarmiert. Sein Atem ging noch immer hastig und unruhig.
„Es wird eine Weile dauern“, meinte er. „Wir müssen uns mindestens ein halbes Stündchen gedulden.“
Kommissar Morry nickte nur. Er starrte noch immer auf die Tote nieder. Sie war so jung wie Kate Hugard. Ihr Gesicht war auch im Tod noch von rassiger Schönheit. Nicht einmal die schwarzen Locken hatten sich im Wasser aufgelöst. Sie ringelten sich naß und klebrig in die Stirn. Morry beugte sich nieder und knotete den Schal auf, der naß und verdrückt unter dem Mantel sichtbar wurde. Das seidene Gewebe lag straff um den Hals. Es ließ sich nur schwer aufzerren. Der Knoten war kaum zu öffnen. Als er sich dann doch endlich lockerte, sah man deutlich einen roten Streifen, der wie ein Brandmal um den wächsern gelben Hals lief.
Morry richtete sich auf. „Haben Sie jetzt noch Zweifel?“ fragte er den Kommissar von der Strompolizei. „Ich glaube, dieser Beweis ist eindeutig. Jetzt gilt es Jagd auf den Mörder zu machen. Sein Aussehen ist uns bekannt. Wir wissen auch seinen Namen.“
„Der Name könnte falsch sein“, warf Inspektor Rhonda skeptisch ein. „Glauben Sie nicht auch, Sir?“
„Möglich“, gab Morry zu. „Das soll uns aber nicht hindern, sofort nach einem gewissen James Hatfield fahnden zu lassen. Machen Sie das, Rhonda! Geben Sie sofort Auftrag an die Yarddruckerei. Sie wissen ja, wie uns der Täter beschrieben wurde.“
Schon zwei Stunden später wurden grellrote Plakate an die Litfaßsäulen geklebt. „Gesucht wird James Hatfield“, lautete der Text, „wegen mehrfachen Mordes an jungen Frauen. Wer kennt einen Mann dieses Namens? Der Gesuchte ist groß, schlank, hochgewachsen, sieht fremdländisch aus und ist sehr elegant gekleidet. Sein Gesicht ist dunkelgetönt, die Augen sind von brauner Farbe. Er wird als ernst und verschlossen geschildert. Sachdienliche Mitteilungen nimmt jedes Polizeirevier entgegen. Die Yardkanzlei hat eine Belohnung von dreihundert Pfund ausgesetzt.“
*
Am nächsten Morgen um acht Uhr saßen Morry und Inspektor Rhonda bereits wieder im Dienstzimmer des Kommissars beisammen. Sie waren nervös und übermüdet. Die bittere Tatsache, daß man bisher nur wenig erreicht hatte, machte sie noch mutloser. Sie konnten kaum still am Schreibtisch sitzen. Sie standen immer wieder auf und wanderten ruhelos auf dem Teppich hin und her. Als das Telefon schrillte, riß Morry hastig den Hörer von der Gabel. Er wartete kaum ab, bis sich der andere gemeldet hatte. „Was gibt es, Wachtmeister?“ fragte er erregt. „Haben Sie was Besonderes zu melden?“
Wachtmeister Giles stotterte erst eine Weile herum, bevor er auf den Kern der Sache zu sprechen kam.
„Es gibt“, sagte er, „über zweihundert Männer in London, die den Namen James Hatfield tragen. Sollen wir uns diese Herren alle einzeln vornehmen, Sir?“
„Natürlich, was denn sonst.“
„In Ordnung, Sir! Wir fangen sofort an. Heute Abend melde ich mich wieder. So long!“
Morry legte verdrossen den Hörer auf. Er marschierte wieder auf dem Teppich hin und her.
„Was kann einen Mörder bewegen“, murmelte er, „junge und blühende Geschöpfe wie diese Mädchen grausam und bestialisch zu ermorden. Wissen Sie ein Motiv für diese schurkischen Verbrechen, Rhonda?“
„Lustmord!“ raunte der Inspektor gedämpft. „Etwas anderes kommt wohl kaum in Frage. Wir haben es mit einer vertierten Bestie zu tun, die aus dumpfen Trieben heraus mordet. Und wenn nicht alles trügt, so ist dieser Satan in den Lokalen am Sodom Wall zu suchen. Nur so erklärt es sich, daß er immer wieder die Mädchen aus der Austern Bar für seine Bluttaten wählte. Und nur so wird es verständlich, daß er bisher nie ertappt wurde. Er kennt das Ufergelände an der Themse besser als wir. Er muß dort aufgewachsen sein oder schon viele Jahre lang in dieser üblen Gegend wohnen.“
Morry ließ sich am Schreibtisch nieder und nahm zerstreut eine Akte
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