Kommissar Morry - Der Moerder von Richmond Hill
erschrocken hat", meinte der Sergeant. „Sie erklären doch selbst, daß sie schreckhaft ist."
„Ängstlich", korrigierte Carter.
Crabb nickte. „Die Reaktionen eines ängstlichen und eines schreckhaften Menschen sind voneinander kaum zu unterscheiden. Sie sagen, Sir, daß Sie die Hintertür geöffnet vorfanden. Die naheliegende Erklärung dafür wäre doch zweifellos, daß Ihre Nichte die Tür benutzt hat? Besaß sie einen dazu passenden Schlüssel?"
„Ja, allerdings", bestätigte Carter. „Aber die Fußspuren, die wir sahen, rührten nicht von einem Damenschuh her. Es waren großflächige Abdrücke — ohne Zweifel stammten sie von einem Männerschuh."
„Nun, war nicht Mr. Conway vor Ihnen im Freien?"
„Ich benutzte den Vordereingang", sagte Conway.
Crabb nickte. Er schob den Notizblock, den er bislang in der Hand gehalten, aber nicht benutzt hatte, wieder in die Tasche.
„Meine Herrschaften", sagte er. „Ich muß Sie bitten, das Naheliegende sehen zu wollen! Ein junges Mädchen zieht sich früh zurück, und zwar mit der Begründung, daß es sich nicht wohl fühlt. Gut. Später stellen Sie fest, daß das Mädchen aus seinem Zimmer verschwunden ist. Nur die Handtasche hat sie zurückgelassen. Dann entdecken Sie eine geöffnete Hintertür und männliche Fußspuren. Was ist wohl aus all dem zu schließen?"
„Jetzt begreife ich, worauf Sie hinaus wollen", sagte Gladys Brooks. „Sie vermuten, daß Julia ein heimliches Rendezvous hat?"
„Sie müssen zugeben, daß der Gedanke sehr naheliegt", erwiderte der Sergeant.
Carter faßte sich verdutzt ans Kinn.
„Diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht ins Auge gefaßt", erklärte er. Dann schüttelte er energisch den Kopf. „Nein, ausgeschlossen. Ich gebe ja zu, Sergeant, daß Ihre Theorie den Vorzug hat, logisch zu erscheinen. Aber Sie kennen Julia nicht. Sie hat es einfach nicht nötig, heimliche Rendezvous zu arrangieren. Sie ist äußerst modern und selbstständig — auch was die Dinge ihres Gefühlslebens betrifft. Wenn sie jemand liebt oder auch nur schätzt, scheut sie sich nicht, ihn nach hier zu bringen. Nein, Ihre Theorie ist nicht akzeptabel."
„Könnte es nicht sein, daß Miß Hopkins jemand kennengelernt hat, den sie, na, sagen wir: als nicht ganz gesellschaftsfähig empfindet? Wäre es nicht möglich, daß sie irgendwelche Rücksichten auf Sie nimmt, Sir?"
Carter schüttelte erneut den Kopf.
„Kann ich mir nicht vorstellen. Noch eins, Sergeant: Sie unterstellen Julia, daß sie sich mit der Absicht zurückzog, später ungesehen aus dem Haus zu huschen, um einen Freund oder Liebhaber zu treffen. Bleiben wir einen Augenblick bei dieser Vermutung. Warum hätte sie sich dann vorher betrinken sollen? Ich weiß, daß das ziemlich hart klingt... aber ich fürchte, wir müssen uns an die Wahrheit halten. Julia trinkt sehr gern, und sie trinkt auch viel — obwohl ihr das nur selten bekommt. Sie weiß das. Kein Mädchen, das seinen Liebhaber erwartet, wird sich um dieses Vergnügen bringen, indem es sich mit Alkohol vollpumpt. Das sehen Sie doch hoffentlich ein?"
Crabb spitzte die Lippen. „Hm. War sie denn wirklich betrunken — oder täuschte sie diesen Zustand nur vor?"
„Lieber Sergeant, ich kenne meine Nichte verdammt gut. Ich billige ihre Trinkerei keineswegs, aber ich habe es längst aufgegeben, dagegen zu opponieren. Sie ist alt genug, um auf sich selbst zu achten. Was nun den heutigen Abend, oder vielmehr die heutige Nacht anbelangt, so kann ich erklären, daß Julia keineswegs geblufft hat,
sondern wirklich völlig groggy war. Sie hat in der Tat ganz erstaunliche Alkoholmengen zu sich genommen."
„Das können wir — leider! — alle bestätigen", meinte Conway.
„Im übrigen", schloß Carter, „bliebe noch die unterbrochene Telefonleitung zu erklären."
„Und der Schrei", fügte Burgos hinzu.
„Vergessen wir nicht den Mann am Fenster", mahnte Gladys Brooks. „Auch er paßt nicht in die hübsche runde Geschichte des Sergeanten hinein."
„War es denn ein Mann?" wollte Crabb wissen.
„Er trug einen Hut. Den Hut hatte er ziemlich tief ins Gesicht gezogen. Es gibt gar keinen Zweifel, daß es ein Mann war."
Crabb trat wieder ans Telefon und nahm den Hörer in die Hand. Alle Anwesenden vernahmen das monotone Tuten.
„Na, sehen Sie?" sagte der Sergeant. „Es war eine lokale Störung. Nichts von Bedeutung. Die Leitung ist wieder in Ordnung."
Er legte den Hörer zurück und verschränkte die Arme vor der
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