Kommissar Steen 01 - Unruhe
dabei. Er wollte Darlings Interesse an seinem Verhältnis zu Lindberg nicht noch weiter wecken und warf stattdessen einen Blick auf den alten Hausbesetzer, der inzwischen um die vierzig sein musste. Die Augenfalten, der aschfahle Teint und die hängende Haut unter dem Kinn verrieten es, aber der Blick war derselbe wie damals. Herausfordernd stand er vor der Fotocollage des 18. Mai, die Arme vor der Brust verschränkt, und behielt die Ermittler im Auge.
Etwas kratzte an der Innenseite von Axels Gehirn, eine Stelle, die er nicht erreichen konnte, und es verschwand nicht. Da war etwas, das ihm immer wieder entglitt, wenn er gerade glaubte, es zu fassen zu bekommen, und er wusste, dass es wichtig war, er wusste, dass es dabei um Lindberg ging. Und um die Leiche.
14
Auf einer Bank vorm Månefiskeren saß Piver und rauchte Haschisch. Das beruhigte ihn aber nur wenig. Noch zehn Minuten, dann würde er Martin Lindberg treffen. Die Unruhe kam in Wellen. Den halben Joint hatte er von einer Gruppe junger Schweden geschnorrt. Er nahm einen Zug und schloss die Augen.
Das besorgte Gesicht seiner Mutter tauchte auf, die wöchentlichen Anrufe im Studentenwohnheim in Lyngby, ihre ängstliche Stimme. Er hatte das beschissene Aalborg und den provinziellen Akademikermief weit hinter sich gelassen – herrje, sie glaubten, sie wüssten alles, dabei wussten sie einen Scheiß.
Aber Piver wusste Bescheid. Über Mutters Wermutflaschen, die wie geheim gehaltene Verpflegungsstationen überall im Haus versteckt waren, über das Unglück, wie sie die Zyste nannte, die dazu geführt hatte, dass man ihr irrtümlich die Gebärmutter entfernt hatte und sie nach ihm keine Kinder mehr bekommen konnte. Über den Vater und seine alten Nummern ›privater Kontakte‹, die er hinter den Büchern übers Fliegenfischen im Arbeitszimmer versteckte. Als seine Mutter die entdeckte, hatte sie zwei Tage lang geheult. Er kannte die Geräusche des Vierminutenficks jeden Donnerstag, das Knirschen der Dielenbretter in der ersten Etage und die Packungen Schlaftabletten und Nervenpillen. Und er würde niemals zurückkehren in dieses heuchlerische halbe Leben, in dem nie etwas in Erfüllung ging und in dem man sich mit wenig zufrieden gab, weil man nicht wagte, mehr zu wollen.
Er öffnete die Augen und sah sich um. Martin Lindberg, der Held des 18. Mai, wollte sich mit ihm treffen. Lindberg würde ihn verstehen, da war er sicher. Und Liz, würde sie ihn nicht in einem anderen Licht sehen, obwohl sie so ängstlich geklungen hatte?
Es war jetzt zwei Uhr, aber noch hatte niemand mit ihm Kontakt aufgenommen. Lindberg hatte sich angehört, als könne ihn nichts abhalten, als würde er alles dafür tun, herzukommen und das Video zu sehen. Piver hatte gespürt, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Er konnte das Geld gut gebrauchen, besonders jetzt. Je unsicherer er wurde, umso mehr sehnte er sich nach Bier, Zigaretten und Haschisch. Und einer Pizza. Sein Magen knurrte.
Er zündete sich eine Zigarette an. Er würde ihm noch zehn Minuten geben. Er überlegte, was er tun sollte, falls Lindberg nicht auftauchte. Der Kasten war im Moment verbotene Zone für ihn, und Nørrebro kam auch nicht infrage, jedenfalls nicht, so lange es hell war. Aber er kannte jemanden, der unten am Dyssen wohnte, dem südlichsten Winkel Christianias. Der Kerl war schon älter, Kunstmaler und Wochenenddealer, er war ihmmal im Kasten begegnet, ein Exfreund von Liz. Zu ihm konnte er gehen und ihn bitten, die Videokamera zu verstecken, und dann würde er direkt bei Modpress hineinmarschieren und sie fragen, ob sie seine Story etwa nicht haben wollten. Oder sollte er die Story vielleicht besser für sich behalten, um sie in der nächsten Nummer des AFA -Blatts zu bringen? Eine ganze Nummer über polizeiliche Gewalt und das Jugendzentrum, basierend auf seinen eigenen Aufzeichnungen und dem Film, dessentwegen ihn die Bullenschweine durch die ganze Stadt hetzten? Der Gedanke war nicht schlecht, aber er war nicht sicher, ob er damit bei Peter Paris und seinem inner circle durchkommen würde.
Er öffnete das letzte Bier. Da sein Magen immer noch leer war, spürte er den Alkohol sofort, der sich mit dem Haschisch zu einer sanften Betäubung vermengte.
Vor dem Eingang zum Månefiskeren bemerkte er einen Mann, der Ausschau nach jemandem zu halten schien. Mit einem Mal war Piver hellwach. Der Typ stand zehn Meter von ihm entfernt, die Hände in die Taschen vergraben, als ob er auf jemanden wartete.
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