Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
sie wenigstens nicht mehr gestritten, zumindest nicht hier. Ich hasse es, wenn mein Vater rumbrüllt und meine Mutter flennt. Auf uns Kinder haben sie nie Rücksicht genommen.«
»Haben sie oft gestritten, sich laut angeschrien?«
»Mein Vater ist ein Choleriker. Bei seinen Klienten versteht er alles und kann jedes Problem lösen, aber bei uns zu Hause hat es damit nie so richtig geklappt. Und meine Mutter hat immer in seinen wunden Punkten rumgestochert, bis sie ihn so weit hatte und er explodiert ist. Das konnte sie sehr gut.«
»Worum ging’s denn bei den Streitigkeiten?«
»Das hab ich meist überhaupt nicht verstanden. Anlässe waren irgendwelche Kleinigkeiten. Aber was dahintersteckte? War ja auch nicht meine Sache. Ich konnte sowieso nichts daran ändern. Auf mich hat ja nie jemand gehört.«
»Hast du in den letzten beiden Wochen mit deiner Mutter telefoniert?«
»Nein, sie hat mir noch zwei SMS geschickt, ich soll mich melden, aber ich hatte keine Zeit. Ich muss im Moment viel für die Schule tun.«
»Mhm«, machte Meißner. Die Trauer würde das Mädchen, das sich hinter seiner Patzigkeit verbarrikadierte, schon noch einholen.
»Ich würde gern noch mit deiner Schwester sprechen. Sie war häufiger bei deiner Mutter, oder?«
»Ja, aber die hält sich ja auch für so eine Künstlerin.«
»Künstlerin? Deine Mutter war doch Journalistin.«
»Sie hat doch wieder angefangen zu singen, hat Tanzkurse gemacht und wollte Bücher schreiben. Stellen Sie sich das mal vor, in ihrem Alter!«
»Hast du mal was von ihr gelesen? Ich meine, Geschichten, nicht Zeitungsartikel.«
»Nö«, sagte Pia, »keine Lust.«
Borniertheit ist nicht unbedingt eine Frage des Alters, dachte Meißner.
»Wie kann ich deine Schwester erreichen?«
»Rufen Sie sie einfach auf ihrem Handy an.«
Sie gab ihm die Nummer, öffnete die Haustür und begleitete ihn mit der Hündin Nell bis zum Tor.
»Hast du irgendeine Idee, einen Verdacht, wer so etwas getan haben könnte?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Es muss schwer für euch sein, auch für deinen Vater.«
»Damals, als sie ihn verlassen hat, hat er gesagt, es wäre leichter für ihn gewesen, wenn sie gestorben wäre.«
»Aber das hat er doch nicht so gemeint«, hörte Meißner sich sagen.
»Mein Vater kann ziemlich egoistisch sein«, meinte Pia, drehte sich um und ging ins Haus zurück.
Fast zärtlich tätschelte Meißner Nell zum Abschied den Kopf. Der Hund konnte ja nun wirklich nichts dafür, dass sein Fell einem immerwährenden jahreszeitlichen Wechsel unterlag.
Nun war die Ehefrau, die ihren Mann verlassen hatte, also wirklich gestorben. Nein, sie war nicht gestorben. Sie war ermordet worden!, korrigierte Meißner seine Gedanken. Und langsam kochte in ihm die Wut hoch. Wenn man so lange zusammengelebt hatte, wie konnten dann so eine Distanz und Gefühlskälte entstehen? Seltsam, dachte er, was in Familien so alles vorgeht. Kinder machten sich über ihre Mütter lustig, die mit über vierzig nicht nur Haus und Garten sauber halten wollten, sondern noch etwas anderes mit ihrem Leben vorhatten. Der Ehemann schrie seine Frau an, bis sie weinte. Musste man sich so etwas gefallen lassen, bloß weil man verheiratet war? Hatte sich diese attraktive, erfolgreiche Frau tatsächlich von einem zur Gewalttätigkeit neigenden Ehemann einschüchtern lassen? Das war doch kaum zu glauben. Die Familie konnte einem Menschen alles geben, konnte ihn aber auch vernichten. Als er Roxanne Stein durch das Blumenfeld tanzen gesehen hatte, hatte sie so frei und unbeschwert gewirkt. In dieser desolaten Umgebung und innerhalb ihrer Familie konnte er sie sich überhaupt nicht vorstellen. Jedenfalls nicht tanzend. Plötzlich war der Hauptkommissar froh, dass Carola und er nie geheiratet hatten. Es hätte nichts besser gemacht.
Er fuhr in eine Parkbucht und rief Frau Seebauer, Roxannes Schwester, an. Sie war zu Hause. Er wendete und fuhr Richtung Süden. Die Seebauers bewohnten ein gepflegtes Reiheneckhaus im Stadtteil Unsernherrn. Kein Hund, keine Staubflocken, kein ungemähter Rasen.
»Ich kann es einfach nicht begreifen«, sagte Frau Seebauer, als sie ihn ins Haus führte. »Meine kleine Schwester. Was ist ihr bloß zugestoßen?« Sie ging in die Küche. Meißner hörte, wie sie sich die Nase putzte, dann kam sie mit Kaffee zurück.
»Waren Sie draußen? Bei der Familie?«
»Ich habe mit Pia gesprochen. Sie sagt, ihre Eltern hätten viel gestritten, und ihr Vater sei ein
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