Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
Sinnlosigkeit saß ihnen dabei immer in den Knochen wie eine große Kälte. Dennoch war das alles nur Vorspiel und vielleicht Schutz gegen das wahre Gefühl der Trauer, das noch auf Eis lag, aber irgendwann über sie hereinbrechen würde.
Alba drehte sich aus bröseligem Tabak eine Zigarette.
»Auch eine?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich komme mir vor wie ein Zombie«, sagte sie. »Ich mag nicht mehr nach Hause gehen. Jetzt schlafe ich bei meinem Freund. Seine Eltern sind sehr nett. Sie kümmern sich um mich.«
»Aber Sie halten schon den Kontakt mit Ihrem Vater und Ihrer Schwester, oder?«, fragte er.
»Plötzlich sind wir alle ganz allein«, sagte sie.
»Sie hatten ein gutes Verhältnis zu Ihrer Mutter?«
»Schon.«
»Waren Sie ihr sehr böse, als sie ausgezogen ist?«
»Natürlich war das hart. Wobei die Jahre davor auch nicht toll waren. Immer mussten wir die Auseinandersetzungen zwischen unseren Eltern miterleben. Ich glaube, es war richtig, dass sie ausgezogen ist, und vielleicht wäre es sogar besser gewesen, wenn sie es früher getan hätte. Uns Kindern wäre damit eine Menge Stress und Ärger zu Hause erspart geblieben. Das glaube ich.«
»Kennen Sie die neuen Freunde und Bekannten Ihrer Mutter?«
»Ein paar, aber nicht alle. Wir haben ja nicht mehr zusammengewohnt und uns nicht mehr täglich gesehen. Ich war häufiger mit meinem Freund zusammen.«
»Hatten Sie in letzter Zeit irgendwann einmal das Gefühl, dass sich etwas verändert hat, dass Ihre Mutter anders war, dass sie Sorgen hatte? Hat sie vielleicht etwas erzählt, was Ihnen merkwürdig vorkam?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Kennen Sie Viktor Grünberg?«
»Den Schauspieler? Ja, der ist nett. Er weiß ziemlich viel.«
»War er der Freund Ihrer Mutter?«
»Früher schon. Wegen dem ist sie ja ausgezogen.«
»Haben Sie ihm das nie vorgeworfen?«
»Was hätte ich ihm denn vorwerfen sollen? Er hat mir meine Mutter doch nicht weggenommen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Anlass und Ursache verwechseln.«
Damit, dachte Meißner, meint sie wohl solche Leute wie ihren Vater, der sich in seiner Gekränktheit einzementiert hat und darüber hinaus nichts mehr wahrnehmen kann.
»Hat sie Ihnen mal von einem Mann erzählt, der ihr Briefe schrieb, in denen er ihr Rätsel stellte oder ein Spiel vorschlug?«
»Nein.«
»Hat sie sonst in letzter Zeit einen neuen Freund erwähnt?«
Alba schüttelte den Kopf.
Langsam trudelten immer mehr junge Leute ein. Sie holten sich am Tresen ihr Bier und gingen dann in den Konzertraum hinunter. Als die Band zu spielen anfing, zog Alba einen Geldschein aus der Tasche.
»Das übernehme ich«, sagte Meißner. »Gehen Sie nur. Und rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.« Er gab ihr seine Karte und sah ihr nach, wie sie vorsichtig die Treppen hinunterging, dünnhäutig und zerbrechlich, wie sie im Moment war.
Dann bestellte sich der Hauptkommissar noch einen Espresso. Von der Band hörte er nicht viel mehr als die Bässe und das Schlagzeug. Zweiundvierzig ist definitiv kein gutes Alter zum Sterben, dachte er. Vor allem, wenn man Kinder hatte. Bei Alba hatte er sie gespürt, die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hatte, und die nicht aufzufüllen war von etwas oder jemand anderem. Albas Kindern, wenn sie je welche bekam, würde die Großmutter fehlen. Und Alba ihre Mutter. Aber irgendwann würde sie begreifen, dass es wichtiger war, dass sie ihre Mutter überhaupt gehabt hatte, als dass sie sie verloren hatte. Wie alle anderen Menschen auch würde sie das lernen müssen. Doch dafür brauchte es Zeit. Und diese Jahre hatte Alba erst noch vor sich.
Meißner dachte an Grünberg im Schwabinger Krankenhaus. Er fand, dass der Selbstmordversuch eigentlich nicht zu dem Mann passte, aber was wusste er schon von ihm? Er konnte sich kein Bild machen. Bisher waren es nur Splitter, die sie zu diesem Fall zusammengetragen hatten. Noch immer sammelten sie nur Details, bissen sich daran fest, suchten Spuren, denen sie folgen konnten. Manche von ihnen würden in einer Sackgasse enden – wie immer. Das Mosaik musste erst noch gelegt werden. Vorerst tat er einfach seine Arbeit. Aber jetzt war er nur noch müde.
Als die Saaltür im Untergeschoss geöffnet wurde, riss ihn die Musik aus seiner Grübelei. Die Band spielte jetzt ein ruhigeres Stück, das man zu seiner Jugendzeit Ballade genannt hätte. Hieß das heute immer noch so?
Alba kam die Treppe hoch und sah sich nach ihm um.
»Schön, das
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