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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Individualität verwische und ein höherer Bewusstseinsstand erreicht werde. Samson dachte an ein Münztelefon mitten im Nirgendwo als Maßstab für die Trostlosigkeit. Er hatte es in einem Film gesehen, ein Mädchen in Cowboystiefeln, das Kaugummi kauend ein paar Quarters sammelte für die einzige Sorte Anruf, die aus Telefonzellen geführt werden, den Hilferuf der Verschollenen und Vermissten. Dabei durchbrachen nur der Wind oder Tarnkappenbomber die Schallmauer zwischen Schweigen und Schweigen.
    Im Auto neben dem Taxi räkelte sich eine Frau mit zerzaustem blondem Pferdeschwanz, bei laufendem Radio vor sich hin singend. Als sie herübersah, winkte Samson ihr zu. Sie reagierte verlegen, und er war es ebenfalls, aber dann lächelte sie und wedelte mit den Fingern, die in fünf Zentimeter langen pinkfarbenen Nägeln endeten. Sie rollten mit der gleichen Geschwindigkeit dahin, warfen einander glückliche Blicke zu und winkten jedes Mal, wenn der eine eine Spur schneller geworden war und der andere wieder aufholte.
    «Besorgen Sie sich ihre Nummer», ermutigte ihn der Taxifahrer, in den Rückspiegel grinsend.
    «Ich hab schon eine Freundin», sagte Samson, um ein Gespräch zu vermeiden und die Augen nicht von dem Mädchen abwenden zu müssen.
    «Dann haben Sie jetzt zwei!», gab der Fahrer fröhlich zurück und widmete sich wieder seinem nunmehr sehr ernst genommenen Job, auf gleicher Höhe zu bleiben. Als sie die Ausfahrt erreichten und abbiegen mussten, schienen alle ein wenig traurig, das Mädchen, der Fahrer und Samson, der sich fragte, wie sie wohl heißen mochte; wenigstens hätte er, über die Spur rufend, nach ihrem Namen fragen sollen.
     
    Sie fuhren die Straßen am Ende des Campus auf und ab. Samson hatte Lanas Adresse auf einem Stück Papier in der Geldbörse aufbewahrt. Er hatte versucht, sie von Ray aus anzurufen, aber niemanden erreicht. Wahrscheinlich war sie in irgendeinem Seminar, und weil er jedenfalls hinfahren wollte, hatte er sich einfach auf den Weg gemacht, in der Annahme, bis er da wäre, würde sie wohl wieder zu Hause sein. Es erregte ihn zu wissen, dass dies die Straßen waren, die sie jeden Tag entlangging, ihre Tasche über die Schulter geschlungen, sich unwirsch gegen den Strich durchs Haar fahrend, sodass sie aussah wie eben aus dem Bett gekommen.
    «Freundin Nummer eins?», fragte der Fahrer, indem er vor einer beige gestrichenen Wohnanlage hielt und sich den Hals verrenkte, um Samson ins Gesicht zu sehen.
    «Was? Ja», sagte Samson, während er die frischen Scheine, die Ray ihm gegeben hatte, abzählte.
    Der Fahrer hielt sich den Finger vor den Mund. «Viel Glück!», säuselte er, dann ließ er die Reifen quietschen und entschwand mit dem geteilten Geheimnis.
    Samson klopfte an die Tür im Erdgeschoss. Als keine Antwort kam, drückte er die Klinke. Es war nicht abgeschlossen.
    «Hallo?», rief er unter nochmaligem Klopfen an die geöffnete Tür.
    Drinnen stand eine Couch an der Wand, es gab Korbstühle, einen aufgeblasenen Dinosaurier und einen in der Ecke abgestellten Fernseher, aus dessen Rückseite lose Drähte herausragten. Eine einzelne, scheppernde Stimme drang von irgendwoher, und es dauerte eine Sekunde, bis Samson begriff, dass es das Radio war, das tief vibrierende Brummen eines schlechten Empfangs im untersten Tonbereich. «Lana?»
    Da sich nichts rührte, folgte er dem Klang des Radios geradewegs ins Schlafzimmer. Die Jalousien waren heruntergelassen, es war stockdunkel bis auf den leuchtenden Bildschirm eines Computers. Jemand hockte davor, den Rücken Samson zugewandt.
    «Hallo?»
    Der Junge drehte sich um, registrierte aber erst mit einiger Verzögerung die andere Person im Raum, als müsste er sich umstellen, sich von einer Ebene auf eine andere begeben.
    «Oh, hallo. Willst du zu Lana? Sie kommt – verflucht, wie spät ist es?» Er blickte aufs Handgelenk, trug aber keine Uhr. «Na sagen wir, ungefähr in einer Stunde.» Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über sein Gesicht, etwas, was unbeheimatet war und gleich wieder verschwand, als die Züge sich entspannten. Er langte nach oben und drehte die Lautstärke eines mit Klebeband zusammengehaltenen Radios herunter, so leise, dass man die Worte der Sendung gerade noch verstand. Beim normal alternden Affengehirn sterben achtundzwanzig Prozent der Nervenzellen ab. Er fummelte an seiner Brille und strich sich mit der Hand über den Hinterkopf, das platte, widerspenstige, ungesunde Haar eines Schlafgestörten oder

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