Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
jederzeit zu entgleiten drohte, hatte er die Richtung geändert und sich entfernt, um sich vor dem Verlust zu schützen, seine Stimme war abgerissen, over und out , wie die eines durch den Raum trudelnden Piloten.
Vielleicht hatte sich die Geschichte aber auch anders zugetragen. Vielleicht hatte ihn seine Liebe zu ihr frustriert, die Unmöglichkeit, je durchzukommen. Vielleicht hatten sie Ausflüge gemacht, waren aus der Stadt hinaus über zierliche, unmerklich im Wind schwingende Brücken mit summenden Stahlseilen gefahren. Nach Norden, in das Land, wo sie sich eine Zukunft vorstellten, durch kleine Städtchen mit Kirchtürmen und Wetterfahnen. Anna hätte ihre Schuhe aus- und die Füße unter sich gezogen. Dezember, leichter Schnee auf dem Boden, sie wären an einen Scheideweg gekommen, das abnehmende gelbe Licht glühend unter dem dunklen Himmelssaum. Sie wäre ganz still gewesen, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Und plötzlich hätte sie anders ausgesehen, mit offenem Mund und einem veränderten Gesichtsausdruck, den er nicht kannte und der sie unkenntlich zu machen schien. Vielleicht hatte er gegen solche Veränderungen aufbegehren wollen, gegen die Tatsache, dass er nicht für sie einstehen konnte.
Oder er selber war es schon vor dem Tumor leid gewesen, an sie gebunden zu sein. Vielleicht hatte er einfach frei sein wollen, war aus dem herausgewachsen, der er bislang für sie gewesen war, von dem sie abhing. Wie war es möglich, jeden Tag beim Aufwachen für jemand anderen erkennbar zu sein, wo man sich selber so oft kaum erkennen konnte? Wenn Anna Recht hatte, wenn ein Mensch nicht mehr war als ein Haufen Gewohnheiten, wurden die Gewohnheiten vielleicht nur beibehalten, um den Liebhaber, neben dem man jede Nacht schlief, nicht zu enttäuschen. Aber welche Chance blieb dann noch, eines schönen Tages ein ganz anderer Mensch zu werden? Vielleicht war letztlich er derjenige, der es nicht ertragen hatte, verantwortlich zu sein, der sich nicht mehr hatte erreichen lassen wollen.
Es war einmal, da liebte er eine Frau. So hatte es angefangen. Aber von da an hätte sich die Geschichte in alle möglichen Richtungen entwickeln können. Nur das Ende war immer gleich: Er hatte den Ballast der Erinnerung abgeworfen und sich schwerelos in die Zukunft gestürzt. Allein und erstaunt, in dem Bestreben, nicht den geringsten Rest mitzunehmen. Am Ende hatte er die geliebte Frau verraten, und wer würde ihn dafür nicht richten?
Anna , rückwärts oder vorwärts, der Name ein Geist seiner selbst. Wenn er sie anriefe, wenn er sie jetzt erreichen würde, was gäbe es zu sagen?
Pip schnarchte sanft an seiner Seite, das süße, abgeschnürte Glucksen eines Babys. Er stellte sie sich als Kind von sechs oder sieben Jahren vor, mit vorgeschobenem Kinn, die Zunge trotzig an der Oberlippe. Daneben ihre Mutter, praktisch selbst noch ein Kind, das lose über die Schultern fallende Haar in der Mitte gescheitelt, noch nicht abgeschnitten, hochtoupiert und dauergewellt in die unattraktive Helmform des mittleren Alters. Die Haut noch unverbraucht, noch nicht vom Unglück gezeichnet, von den Eskapaden einer herangewachsenen Tochter, die das behagliche Elternhaus floh und lieber im Elend hauste, deren Mangel an innerem Frieden sie durch die Welt trieb, in die Hände obszöner Männer, die sie im Namen eines Gottes berührten, und die endlich zurückgekehrt war, um sich im Namen eines anderen in den Pazifik tunken zu lassen. Das mütterliche Herz noch nicht von dem verlorenen Kind gebrochen.
Samson fragte sich, ob Anna und er je über Kinder gesprochen hatten, ob ein eigenes Kind mit Annas Augen und seinen Gesichtszügen auf dem Weg in die Zukunft gewartet hatte und jetzt für sie verloren war. Der Gedanke daran ließ sein Herz vor Kummer und Liebe erzittern.
Pips Mutter, die ihre Tage in einem Raum mit halb geschlossenen Jalousien verbrachte, Zigaretten rauchte und zuckerfreie Limonade trank, voller Sehnsucht nach all den verlorenen Dingen, darunter dieses sechsjährige Mädchen, Patricia getauft, das unter dem herzigen Namen Pip so brillant in die Welt der Cocktailgläser eingezogen war. Ray hatte Recht: Das Elend der anderen war nur eine Abstraktion. Und weil es unmöglich ist, das Leiden eines anderen nachzuvollziehen oder gar zu empfinden , ohne sich auf sein eigenes zu beziehen, kamen Samson naturgemäß erst Anna und schließlich seine eigene Mutter in den Sinn. Er wusste fast nichts von den letzten zwanzig Jahren seines Lebens. Er
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