kommt wie gerufen
nächsten Tag überhaupt noch erleben?
Farrell schlief tief. Sekundenlang beneidete sie ihn um seine Ruhe, bis ihr einfiel, daß er nachts seine gymnastischen Übungen machte.
Auch Oberst Nexdhet schlief, und plötzlich mußte sie an das Messer denken, und Angst überfiel sie. Er mußte bald aufwachen, und dann würde er das Messer vermissen und natürlich sofort wissen, daß sie oder Farrell es an sich genommen hatten. Wer sonst hätte es ihm aus einer versperrten Zelle stehlen können? Warum, zum Kuckuck, hatte sie das nicht schon gestern abend überlegt! Sie hatten sich so dringend ein Messer gewünscht, und als Nexdhet damit hereinspaziert kam, hatten sie darin prompt das dritte Wunder gesehen.
»Dabei kann das unser Verderben sein«, dachte sie.
Als hätte er ihre Gedanken gefühlt, setzte Nexdhet sich auf, gähnte und rieb sich die Augen. Er nickte ihr zu und glättete mit einer Hand seinen aufgezwirbelten weißen Schnurrbart. Mrs. Pollifax bot ihre ganze Selbstbeherrschung auf, um nicht auf die leere Scheide zu blicken und betete, daß Oberst Nexdhet nicht Gedanken lesen konnte. Dann stand Nexdhet auf, streckte sich und griff nach seinem Rock, der am Fußende der Pritsche lag.
Während Mrs. Pollifax ihm zitternd zusah, hob er den Rock auf, beklopfte eine Tasche und fuhr mit beiden Armen in die Ärmel. Gesehen hat er den leeren Halfter zumindest nicht, dachte sie aufgeregt und wartete darauf, daß er nach dem Dolch tasten würde. Aber er tat es nicht. Statt dessen bückte er sich und schnürte seine Schuhe zu.
Farrell setzte sich kerzengerade auf. Auch er blickte rasch zu Oberst Nexdhet hin und sah dann Mrs. Pollifax ängstlich an, die den Kopf schüttelte. Im gleichen Augenblick erklangen Schritte im Flur, Schlüssel rasselten, die Tür öffnete sich, und der Wächter Stefan kam mit dem Frühstück. Nexdhet wechselte ein paar kurze Worte mit ihm, dann ging er.
Stefan zog sich zurück und ließ die Servierbretter in der Zelle. »Er hat nicht bemerkt, daß es fehlt?« flüsterte Farrell.
»Vorläufig noch nicht. Und nachdem er die Zelle verlassen hat, kann er auch nicht mehr uns die Schuld zuschieben.«
»Eins zu Null für uns.« Farrell stand auf, schwankte gefährlich, aber winkte sie aus dem Weg. »Jetzt zeige ich Ihnen, was ich heute nacht gemacht habe, während Sie geschlafen haben.« Halb kroch, halb humpelte er zu dem Baum, der an der Wand lehnte. Er packte den Baum beim Wipfel und hob die obersten dreißig Zentimeter so säuberlich ab, wie ein Zauberer ein Kaninchen aus dem Zylinder hebt.
»Du liebe Güte!« rief Mrs. Pollifax angenehm überrascht.
»Ich habe ein Ende ausgehöhlt und das andere zugespitzt, daß die beiden Teile quer ineinanderpassen. Immerhin ist es ein Anfang, und später werden wir die Zweige abreißen. Glauben Sie, daß Sie etwas zum Auspolstern finden könnten?«
Mrs. Pollifax nickte. »In meiner Matratze ist ein hübsches Loch.
Zum Schlafen ist es weniger bequem, aber wie dazu geschaffen, die Füllung herauszurupfen. Wissen Sie, daß wir auf Roßhaar geschlafen haben? Vielleicht juckt es uns deshalb so sehr.« Sie zerrte die Füllung bereits aus ihrer Matratze und wand daraus ein Bündel für die Querleiste seines Krückstockes.
»Was wollen Sie über das Roßhaar ziehen?«
»Mein Unterkleid, und mit ihm hat es eine besondere Bewandtnis.«
»Wie, bitte?«
»Sicherheitsnadeln!« sagte Mrs. Pollifax triumphierend. »Ich war nie sehr geschickt im Nähen, und beide Träger sind nur mit Sicherheitsnadeln festgesteckt.«
»Ich segne Ihre Unordentlichkeit!« sagte Farrell tief beeindruckt.
»Wenn Sie mich unordentlich nennen, leihe ich Ihnen die Nadeln nicht«, versetzte sie beleidigt.
»Na schön, dann Ihren bezaubernden Mangel an Hausfraulichkeit.«
»Das klingt bedeutend besser. Und wenn Sie jetzt den Kopf umdrehen, ziehe ich mein Unterkleid aus.«
»Ich sehe weg. Geben Sie das Zeug lieber mir zum Befestigen, denn Sie können jeden Moment zu Ihrem Spaziergang beordert werden.«
»Jetzt dürfen Sie sich umdrehen«, sagte Mrs. Pollifax und überreichte ihm das Unterkleid, die Sicherheitsnadeln und das Roßhaar, worauf sie sich beide zum Frühstück setzten. Brot und Käse verschwanden automatisch in Mrs. Pollifax’ Handtasche, und so blieb ihnen nur der dünne Haferbrei. Am nahrhaftesten aber fand Mrs. Pollifax das Wissen, daß sie heute ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen wollten. Heute war es soweit. Ihre Ängste hatten sich verflüchtigt. Alles war besser
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