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kommt wie gerufen

kommt wie gerufen

Titel: kommt wie gerufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy Gilman
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nahm das nasse Blatt wieder an sich und vertiefte sich noch einmal darin. »Man muß eines bedenken«, sagte sie leise.
    »Der Landweg vom Skutari-See bis zur Küste scheint ziemlich lang zu sein. Ich schätze ihn auf zehn bis zwanzig Meilen, und wir müßten die gesamte Strecke zu Fuß zurücklegen. Diese komische Linie schlängelt sich ein bißchen, aber jedenfalls endet sie in der Adria. Hoffentlich ist sie wirklich ein Fluß. Wenn wir ein Boot hätten… «
    »Wenn wir ein Boot hätten, und wenn das ein Fluß ist und wenn er in die Adria mündet – «
    Der Dschinn brach ab, ohne seinen Satz zu beenden, und sie schwiegen alle still und überlegten die vielen Wenns. Nach kurzer Pause sagte der Dschinn: »Ihr bleibt hier«, und stand auf. »Ich will versuchen, ein Boot zu finden.«
    Mrs. Pollifax nickte. Sie empfand es als Erlösung, daß jemand ihr befohlen hatte, sitzen zu bleiben. Damit ersparte sie sich nicht nur die Anstrengung jeder Bewegung, sondern der Befehl löschte in ihr auch jedes Gefühl von Schuld oder Verantwortlichkeit. Sie schloß die Augen, öffnete sie aber wieder und bemerkte, daß Farrell bereits schlief. Seufzend zwang sie sich. Wache zu halten, damit nicht alle ihre bisherigen Mühen vergeblich bleiben sollten. Um sich zu beschäftigen, überschlug sie, wie viele Stunden sie schon auf der Flucht waren. Sie waren Donnerstag gegen neun Uhr abends ausgebrochen. Als sie heute den Baumstamm in den Skutari-See geschoben hatten, war es bereits sehr dunkel, also etwa auch neun Uhr gewesen. Demnach waren sie kaum mehr als vierundzwanzig Stunden unterwegs, und das war kaum zu glauben, denn ihr kam es bereits wie ein lebenslänglicher Alptraum vor. Sie konnte nicht verhindern, daß die Müdigkeit sie übermannte, und eben fielen ihr die Augen zu, als sie das leise Plätschern eines Ruders oder Paddels im Wasser vernahm. Sie weckte Farrell mit einer Berührung, und als er ruckartig hochfuhr, legte sie warnend einen Finger an die Lippen.
    Beide drehten sich um und sahen, wie sich der Umriß eines langen Bootes durch das bläßliche Mondlicht schob. Bug und Heck waren spitz und ragten hoch aus dem Wasser auf. In der Mitte stand ein Mann mit dem Gesicht zum Bug. Er hielt in jeder Hand ein Ruder, aber Mrs. Pollifax konnte nicht ausmachen, ob es der Dschinn war, ehe das Boot anlegte. Sie und Farrell gingen ihm entgegen.
    »Einsteigen, bitte«, sagte der Dschinn, verneigte sich nach alter Gewohnheit, und Mrs. Pollifax sah sogar, daß seine Augen vergnügt zwinkerten. Der Dschinn war äußerst zufrieden mit sich, und das mit Recht, dachte sie, und überlegte, wie er wohl die Londra gefunden hatte. Sie konnte nur hoffen, daß er niemand hatte töten müssen.
    Sie half Farrell ins Boot. Er konnte sich nur auf den Rand setzen und sich rücklings hineinfallen lassen, anders ließ es sein gebrochenes Bein nicht zu. Auch sie plumpste ins Boot und blieb, zu müde, um etwas zu sagen oder sich zu bewegen, am Boden liegen. Jetzt war der Dschinn an der Reihe, die Führerrolle zu übernehmen. Mrs. Pollifax lag auf dem Rücken, starrte zum bewölkten Mond empor und hoffte, daß sie nie wieder an die Reihe kommen würde. Der Dschinn hatte bereits mit raschen, kurzen Schlägen zu rudern begonnen. Leise und verträumt sagte Mrs. Pollifax: »Sie haben ein Boot gefunden.«
    »Unweit von hier angebunden«, flüsterte der Dschinn über die Schulter zurück. »Schlafen Sie ein bißchen. Die Strömung hilft mir. Wegen des Mondlichts halte ich mich knapp am Ufer.«
    Mrs. Pollifax ließ ihren Blick von ihm zu der Burg von Shkodra wandern und höher empor zu einem einsamen Stern. Und damit schlief sie ein. Als sie erwachte, waren die Burg und der Stern verschwunden, und sie hatte den Eindruck, als sei der Himmel um eine Schattierung heller geworden. Dann begriff sie, daß sie der Knall einer Pistole geweckt hatte, mit der irgendwo längs des Ufers geschossen worden war. Sofort setzte sie sich auf.
    »Niederlegen«, zischte der Dschinn ihr heftig zu.
    Auch Farrell duckte sich mißtrauisch. »Aber was war das, wer ist das?«
    »Jemand am Ufer. Ich glaube, er will, daß wir anhalten.«
    »Und werden wir das?« fragte Mrs. Pollifax schwach.
    »Ich habe ihn nicht gesehen, es ist zu dunkel«, sagte der Dschinn und bewegte dabei kaum die Lippen. »Ich habe etwas gehört, zum Ufer geblickt und konnte nur unklar einen winkenden Mann ausnehmen, aber ich habe fortgesehen. Das tue ich noch immer und sehe gar nichts.«
    »Aber vielleicht schießt

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