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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Autoren: Karin Fossum
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HAUS.
    Sie überzeugte sich davon, daß Türen und Fenster geschlossen waren. Nahm die Post herein und legte sie auf den Küchentisch. Steckte den Finger in alle Blumentöpfe. Blieb immer einige Minuten stehen und ängstigte sich. Er war so gutgläubig, wie ein großes Kind, und jetzt irrte er dort unten zwischen zwölf Millionen Menschen in der Hitze umher. Sie sprachen eine Sprache, die er nicht verstand. Aber er war ja ein solider Charakter. Nie impulsiv, nicht am Trinken interessiert. Sie musterte die Wände, ein Bild der Mutter, ein Bild von sich selber mit fünf Jahren, mit runden Wangen und molligen Knien. Ein Bild von Gunder in der Uniform der Heimwehr. Eins der Eltern, die vor dem Haus standen. Ansonsten hing dort noch eine schlechte Darstellung einer Winterlandschaft, die er sich auf einer Auktion im Bürgerhaus zugelegt hatte. Sie betrachtete die Möbel. Schlicht und solide. Einen alten Wandbehang, den die Mutter gehäkelt hatte. Nirgendwo ein Staubkorn. Saubere Fenster. Wenn er jemals eine Frau findet, dachte sie, dann wird er sie wie eine Königin behandeln. Obwohl die Chancen inzwischen sanken. Er war noch immer ein gutaussehender Mann, fand sie, aber er war doch von der Zeit gezeichnet. Bauch, Wangen. Die Geheimratsecken wurden zusehends größer. Seine Hände waren grob und riesig, wie die des Vaters es gewesen waren. Er wäre ein wunderbarer Vater geworden. Plötzlich war sie traurig. Vielleicht würde er allein alt werden müssen? Was wollte er in Indien? Sich eine Frau suchen? Sie war schon auf diesen Gedanken gekommen. Was würden dann die Leute sagen? Sie selber würde gar nichts sagen, außer freundlichen Dingen. Aber die anderen. Die, die ihn nicht so sehr liebten wie sie. Ob er wußte, was er da machte? Vermutlich. Seine Stimme am Telefon, von Indien her, knisternd und knackend. Und fröhlich. Jetzt bin ich hier, Marie. Mein Hemd war schon schweißnaß, als ich noch gar nicht richtig ausgestiegen war. Und ein Hotel habe ich gefunden. Gegessen habe ich auch schon. In einem netten Restaurant um die Ecke vom Hotel. Überall wird Englisch gesprochen. Die Serviererin hatte keine Problem. Ich habe »chicken« gesagt, und sie hat mir ein Hähnchen gebracht, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Du weißt nicht, wie Hähnchen schmeckt, so lange du nicht in Indien gewesen bist, hatte er eifrig gesagt. Und billig ist es auch. Als ich am nächsten Tag wieder dort war, hat sie gefragt, ob ich mehr Chicken wollte. Und jetzt gehe ich jeden Tag hin. Es gibt jedesmal neue Soßen, gelbe und rote und grüne. Kein Grund, mir noch etwas anderes zu suchen, wo ich dieses Lokal gefunden habe. Es heißt Tandels Tandoori. Und sie haben eine so nette Bedienung.
    Die Serviererin, dachte Marie und lächelte resigniert. Die war wohl die erste Frau, die ihm begegnet war, und außerdem war sie freundlich. Das reichte Gunder sicher aus. Jetzt würde er wohl vierzehn Tage lang in diesem Tandels Tandoori sitzen, ohne etwas anderes zu sehen. Sie sagte, zu Hause sei alles in Ordnung. Aber ob er wisse, daß sein einer Hibiskus Läuse hatte? Für einen Moment klang Gunders Stimme ein wenig bedrückt. Dann faßte er sich wieder. »Ich habe im Keller ein Läusemittel. Der Hibiskus wird schon durchhalten, bis ich wieder zu Hause bin. Sonst soll er eben sterben. So einfach ist das.«
    Marie seufzte. Es sah ihrem Bruder gar nicht ähnlich, dermaßen gleichgültig über seine Pflanzen zu reden. Wenn sie eingingen, erschien ihm das sonst als persönliche Beleidigung.
    Das Buch, das sie ihm damals geschenkt hatte, stand deutlich sichtbar im Regal. Sie entdeckte es, weil es zwischen den anderen Rücken hervorragte. Sie zog es heraus, und wieder öffnete es sich automatisch auf derselben Seite. Eine Zeitlang betrachtete sie die Inderin. Stellte sich vor, wie der Blick ihres Bruders auf diesem schönen Gesicht geruht hatte. Wie würden Inderinnen wohl Gunder sehen? Er hatte schon etwas Beeindruckendes. Er war groß und ungeheuer breitschultrig. Und er hatte schöne Zähne, das war ihm wichtig. Seine Kleidung war sauber, aber altmodisch. Und er hatte dieses vertrauenerweckende Wesen, und seine Langsamkeit fiel vielleicht nicht auf, solange sie zu verstehen versuchten, was er sagte. Vielleicht würden sie ihn gerade deshalb so sehen, wie er war. Langsam, aber dennoch fleißig. Ängstlich, aber dennoch zielstrebig. Er hatte schöne Augen. Groß und blau. Die Schönheit auf dem Bild hatte ebenfalls schöne Augen, sie waren fast schwarz.
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