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Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie

Titel: Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Autoren: Karin Fossum
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Im Gegensatz zu Poona. Du hast kaum Ähnlichkeit mit dir selber«, sagte er traurig. »Aber ich erkenne dich an deiner Nase. Die sieht größer aus als sonst, weil du so dünn bist. Denk doch mal, wie lange du schon hier liegst, ich kann es fast nicht fassen. War Karsten heute hier? Das hatte er versprochen. Er ist mir doch so fremd. Dir vielleicht auch? Er war doch nie zu Hause, oder?«
    Stille. Er lauschte auf das schwache Atmen seiner Schwester. Im grellen Deckenlicht sah sie alt aus.
    »Mehr habe ich nicht zu sagen«, sagte Gunder traurig. »Ich rede schon so lange.« Er senkte den Kopf. Richtete den Blick auf den Hebemechanismus des Bettes, auf ein Pedal unten am Boden. Versetzte ihm einen Tritt. »Morgen bringe ich ein Buch mit. Dann kann ich dir vorlesen. Es wird gut für mich sein, nicht mehr über mich reden zu müssen. Welches Buch soll ich nehmen? Ich muß mal im Regal nachsehen. Ich kann aus »Alle Völker dieser Erde vorlesen«, und wir können um die Welt reisen, du und ich. Nach Afrika und Indien.«
    Er spürte, wie eine Träne in sein Auge trat, und wischte sie mit dem Fingerknöchel weg. Hob den Kopf und sah seine Schwester durch einen Tränenschleier an. Plötzlich starrte er in ein Auge. Eine Art Wind schien durch das Zimmer zu wehen, als er den dunklen Blick sah. Sie starrte ihn von weither an. Und ihre Augen waren voller Erstaunen.
     
    Später, als die Aufregung sich gelegt und der Arzt Marie untersucht hatte, verschwand sie wieder. Gunder wußte nicht sicher, ob sie ihn erkannt hatte. Vermutlich würde sie noch mehrere Male aufwachen und wieder das Bewußtsein verlieren, ehe sie ganz klar sein würde. Er rief Karsten an.
    Hörte den leisen Anflug von Panik in dessen Stimme. Dann fuhr er zu Poonas Grab. Machte sich an einer üppigen Erika zu schaffen, die alles aushielt, Frost und Dürre. Bohrte die Finger in die kalte Erde, liebkoste den kleinen Flecken, der ihr gehörte. Fuhr über das hölzerne Kreuz und die Buchstaben, die ihren schönen Namen bildeten. Danach kam er nicht mehr hoch. Sein Körper erstarrte in dieser Haltung, er konnte weder Arme noch Beine bewegen. Oder den Kopf heben. Nach einer Weile wurde ihm kalt, und er fühlte sich noch steifer. Rücken und Knie taten weh. Sein Kopf war leer, keine Trauer, keine Angst, nur eine abgrund tiefe Leere. Er hätte bis zum Frühling so sitzenbleiben können. Es gab auch keinen Grund aufzustehen. Bald würden Eis und Schnee sich kalt über die ganze Erde legen. Gunder war eine gefrorene Skulptur, wie er so dahockte und die weißen Hände in die Erde bohrte. Ein Schatten glitt in sein Blickfeld. Pastor Berg trat neben ihn.
    »Jomann«, sagte er. »Sie müssen doch frieren.«
    Das sagte er mit leiser Stimme. Typisch Pastor, dachte Gunder. Aber er bewegte sich nicht.
    »Kommen Sie mit ins Warme«, sagte Berg.
    Gunder versuchte, sich zu bewegen, aber sein Körper wollte ihm nicht gehorchen.
    Berg war nicht groß, aber er packte Gunder am Arm und half ihm auf die Beine. Klopfte ihm ungeschickt auf die Schulter. Schob ihn vor sich her zum Pfarrhaus. Drückte ihn in einen Sessel. Im Kamin brannte ein Feuer. Langsam taute Gunder auf.
    »Was habe ich getan«, sagte er mit tränenerstickter Stimme.
    Berg musterte ihn ruhig. Gunder konnte kaum atmen. »Ich habe Poona hierher und in den Tod gelockt«, schluchzte er. »Habe sie in die kalte Erde gelegt, obwohl sie doch Hindu ist und anderswo sein sollte. Bei ihren eigenen Göttern.«
    »Aber sie wollte doch hierher, zu Ihnen«, sagte Berg.
    Gunder schlug die Hände vors Gesicht. »Und ich wollte alles für sie tun!«
    »Das haben Sie doch, finde ich«, sagte Berg. »Sie hat ein schönes Grab. Wenn Sie sie ihrem Bruder mitgegeben hätten, würden Sie das jetzt vielleicht bereuen. Sie hatten die Wahl zwischen zwei schrecklichen Möglichkeiten. Das kommt vor. Niemand kann Ihnen einen Vorwurf machen.«
    Gunder senkte den Blick. Dann hob er den Kopf und sah den Pastor an.
    »Ich wüßte gern, was Gott sich dabei gedacht hat«, sagte er leise. Ein Hauch von Zorn fuhr über sein Gesicht.
    Berg schaute aus dem Fenster, auf die Baumwipfel draußen. Langsam fielen die Blätter zu Boden. »Ich auch«, sagte er leise.
    Nach einer Weile riß Gunder sich zusammen. »In Indien spielen die Kinder zwischen den Gräbern Fußball«, sagte er dann. »Das sieht nett aus. Irgendwie natürlich.«
    Berg konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Das wäre schön. Aber das habe nicht ich zu entscheiden.«
    Dann fuhr Gunder nach
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