Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Hause. Blieb eine Weile vor der Treppe in den ersten Stock stehen. Faßte dann endlich einen Entschluß, ging langsam hoch und holte den Karton mit Poonas Kleidern. Langsam und andächtig nahm er ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus und hängte alles in den Kleiderschrank im Schlafzimmer. Der Schrank, der bisher mit grauen und schwarzen Anzügen gefüllt gewesen war, sah gleich ganz anders aus. Ihre Schuhe stellte er darunter auf den Boden. Er brachte ihre Toilettensachen ins Badezimmer. Legte ihre Bürste unter den Spiegel. Eine kleine Flasche Parfüm stellte er neben sein Rasierwasser. Danach setzte er sich ans Küchenfenster und blickte hinaus in den Garten. Der Himmel hatte sich bewölkt, alles war grau. Er hatte einen Meisenknödel vor das Fenster gehängt. Ab und zu landete darauf ein Vogel. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Wie sein Leben mit Poona wohl ausgesehen hätte? Hatte sie sich so sehr gefreut wie er? Oder war er nur ein wohlhabender Mann mit dem Schlüssel zu einer angenehmen Zukunft gewesen? Wie seine Schwester behauptet hatte? Jetzt würde er nie erfahren, ob das, was sie getan hatten, wichtig für sie gewesen war. Ob sie eine liebevolle Frau geworden wäre, eine treue Lebensgefährtin. Oder ob sie einfach glücklich über die Vorstellung gewesen war, der Armut von Mumbai zu entkommen. Wie sollte er das jemals mit Sicherheit wissen? Seine Zukunft, die er sich nur mit Mühe ausmalen konnte, würde aus Mutmaßungen und Träumen bestehen. Aus den Erinnerungen an seine Hoffnungen. Und er hatte nicht einmal gesagt, daß er sie liebte. Das hatte er nicht gewagt. Jetzt bereute er das bitterlich. Er hätte es von den höchsten Bergen schreien mögen, damit alle es hörten: Geliebte, geliebte Poona!
Was ist Liebe, dachte er rasch und verzweifelt. Nur ein brennender Wunsch.
Er stützte den Kopf auf die Arme und stöhnte. Überwältigt von den vielen Fragen. Was hatte Poona gedacht, als sie ihn im Flughafen nicht gefunden hatte? Wer war Marie jetzt? Was würde sie brauchen?
Gunder hob den Kopf. Und sah den Briefträger in seinem grünen Pajero. Jetzt hielt er bei Gunders Briefkasten an. Er wartete, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war, dann schlenderte er zur Straße hinunter. Ein Brief. Für ihn, in einem großen Umschlag. Er ging zurück in die Küche und öffnete ihn. Es war Poonas Brief an ihren Bruder. Der Originalbrief, auf Marathi, und die Übersetzung. Sejer hatte einen Gruß beigelegt. Gunder holte seine Brille, setzte sie auf und gab sich alle Mühe, seine Hände ruhig zu halten. Dann las er. Draußen wurde es heller. Langsam wanderte eine Wolke weiter und ließ eine strahlende Oktobersonne sehen. Das Gras glitzerte. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Vogeltränke. Und jetzt landete vor dem Fenster ein Buntspecht. Er schlug die Krallen in den Meisenknödel und hackte energisch auf Talg und Körner ein. Ein Männchen, dachte Gunder. Der Hinterkopf leuchtete in der Sonne blutrot. Langsam las er den Brief. In ihm kam alles zur Ruhe.
Lieber Bruder Shiraz , wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen . Ich schreibe jetzt aus einem wichtigen Grund . Und Du mußt verzeihen , daß ich keine Rücksicht auf Dich nehme .
Ich bin verheiratet . Das ist gestern geschehen . Er ist ein guter Mann , liebevoll und anständig . Er umsorgt mich wie ein Kind , dem man helfen und das man beschützen will . Er heißt Gunder Jomann .
Mr . Jomann ist groß und stark und schön . Er hat zwar nicht viele Haare und er ist nicht sehr schnell , weder beim Handeln noch beim Denken . Aber jeder Schritt ist gut durchdacht , und jeder Gedanke kommt ihm von Herzen . In dem Land , in dem er lebt , hat er Haus und Arbeit . Mit Garten und Obstbäumen und noch viel mehr . Es ist kalt dort , sagt er , aber ich habe keine Angst . Er strahlt Licht und Wärme aus . Ich will immer bei ihm sein . Ich habe keine Angst vor Deiner Meinung , lieber Bruder , denn das hier ist mein größter Wunsch : in sein Land zu reisen und in seinem Haus zu leben . Für den Rest meines Lebens . Auf der ganzen Welt gibt es keinen besseren Mann als Gunder Jomann . Seine Hände sind so groß und offen . Seine Augen sind blau wie der Himmel . Sein starker breiter Körper strahlt eine stille Kraft aus . Ich weiß es , ich habe es gesehen und gespürt . Das Leben mit ihm wird gut sein . Freu Dich mit mir !
Sei so glücklich wie ich über alles , was passiert ist .
Deine Schwester Poona
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