Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
Der Blick in Gunders große blaue Augen wirkte auf eine Inderin sicher exotisch und erregend. Und er hatte diesen großen, schweren Körper. Die Menschen in Indien waren zierlich und klein, wie sie glaubte. Obwohl, viel wußte sie ja nicht darüber. Sie wollte das Buch gerade zuklappen, als ein Zettel herausfiel. Eine Juwelierrechnung. Verblüfft starrte sie den Zettel an. Eine Silberbrosche. Zu tausendvierhundert Kronen. Was hatte das zu bedeuten? Für sie war der Schmuck nicht, sie besaß keine Tracht. Hier passierte offenbar mehr, als sie geahnt hatte. Sie legte den Zettel wieder ins Buch und verließ das Haus. Drehte sich ein letztes Mal um und schaute zu den Fenstern hoch. Dann fuhr sie los in Richtung Innenstadt. Marie war, das behaupteten ihr Mann Karsten und Gunder, eine miserable Fahrerin. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sie auf die Straße vor dem Wagen. Sie schaute nie in den Spiegel, sondern umklammerte das Lenkrad und orientierte sich an der weißen Linie auf ihrer linken Seite. Sie behielt immer dasselbe Tempo bei, knapp unter siebzig, egal, wo sie auch war. Den fünften Gang hatte sie noch nie benutzt. Auf diese Weise kam sie überall hin, ansonsten war sie diejenige der Geschwister, die alle Probleme lösen mußte. Mit ihrem Bruder kannte sie sich aus. Jetzt war sie sich sicher. Er war nach Indien gefahren, um sich eine Frau zu suchen. Und bei seiner Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit würde es sie nicht wundern, wenn er vierzehn Tage später mit einer dunklen Frau am Arm weder auftauchte. Mit einer Frau, die eine Trachtenbrosche trug. Großer Gott, dachte sie und jagte über einen Zebrastreifen, so daß eine Frau mit Kinderwagen erschrocken zurückfuhr. Was werden die Leute sagen?
Sie hielt bei Einars Kro, um Zigaretten zu kaufen. Einar wienerte seine Musikbox, Sprühte sie zuerst mit Politur ein und wischte sie dann mit einem Handtuch nach.
Es waren noch immer Schulferien. An einem Tisch saßen zwei Mädchen. Marie kannte sie, sie hießen Linda und Karen. Linda war dünn und hatte ein scharfes, fast manisches Lachen. Sie hatte eine weiße Löwenmähne, ein schmales Gesicht und spitze weiße Zähne. Wenn Marie Linda ansah, dachte sie immer ganz spontan, daß dieses Mädchen dem Untergang geweiht sei. Sie wußte nicht, warum sie das glaubte. Aber etwas an Lindas Wesen, an ihren fast unnormal funkelnden Augen, an ihren heftigen Bewegungen und dem scharfen Lachen erweckte in Marie den Eindruck, daß diese Frau zuviel wollte. Sie war so sichtbar, wie eine Lampe mit einer viel zu starken Birne. Eines Tages würde sie einfach verglühen. Die andere dagegen, die dunkle, ruhigere Karen, war zurückhaltender. Sprach mit gedämpfter Stimme, zeigte ihren Körper nicht vor. Einar griff zu einer Packung Players, und Marie bezahlte. Sie mochte Einar nicht. Er war immer korrekt, aber er schien ein düsteres Geheimnis zu hüten. Sein Gesicht war nicht breit und offen wie Gunders, sondern schmal und verkniffen. Es strahlte Unwillen aus. Auch Gunder mochte ihn nicht. Nicht, daß er das jemals laut gesagt hätte, er sprach nie schlecht über andere. Wenn er nichts Nettes sagen konnte, dann schwieg er lieber. Wie damals, als sie ihn nach dem neuen Kollegen gefragt hatte, dem jungen Bjørnsson. Gunder hatte von seiner Lektüre hochgeschaut und gesagt: »Das geht schon so.« Dann hatte er sich wieder in die Zeitung vertieft. Und Marie hatte gewußt, daß er Bjørnsson nicht leiden konnte.
Über den dorfeigenen Taxifahrer dagegen konnte er lange reden. Kalle Moe hat sich per Postversand Wagenschmiere gekauft, konnte er sagen. Sechshundert Kronen für zwei kleine Büchsen. Der Mann ist unglaublich. Ich glaube, sein Wagen hat schon eine halbe Million auf dem Buckel. Aber das ist ihm nicht anzusehen. Vermutlich singt er ihn abends in den Schlaf, hatte Gunder lachend gesagt. Und Marie hatte gewußt, daß er Kalle mochte. Und Ole Gunwald aus dem Dorfladen. Er quält sich mit seiner Migräne. Gunwald hat es nicht leicht. Während sie sich das alles überlegte, hörte sie Linda lachen und sah, wie Einars Blick zu den beiden Mädchen hinüberhuschte. Da hatte er ja immerhin etwas zu betrachten, während er sich an seiner Musikbox zu schaffen machte.
»Und Jomann ist ganz allein in die weite Welt hinausgezogen?« fragte Einar plötzlich. Marie nickte.
»Nach Indien. In Urlaub.«
»Nach Indien? Du meine Güte. Wenn er mit einer indischen Frau zurückkommt, dann werde ich grün vor Neid.« Er kicherte. Marie fuhr zusammen.
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