Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
sicher. Eine Horde Presseleute lief hinter ihnen her. Er versteckte sich nicht. Ging ruhig und mit energischen Schritten. Ein Anwalt ist unterwegs, er sitzt schon im Taxi und sieht die Unterlagen durch, hatten sie gesagt. Er wird Sie vertreten. Sie müssen Vertrauen zu ihm haben.
Warum hatten sie das gesagt? Gøran versuchte, zu entscheiden, was in dieser unwirklichen Situation klug oder richtig wäre. Was wußten sie, was hatte ihn hergebracht? Die anderen hatten es eilig und waren hektisch. Ab und zu blieben alle stehen, weil plötzlich jemand mit noch mehr Papieren aus einer Tür sprang. Dann blieb auch er stehen und wartete. Ging weiter, wenn die anderen sich in Bewegung setzten. Sein Mund war wie ausgedörrt. Wo gingen sie wohl hin? In einen kahlen Raum mit blendendem Licht? Würde er dort mit einem Polizisten allein sein, oder würden Zeugen dazugeholt werden? Er hatte so viele Filme gesehen. Bruchstücke von Bildern jagten vorbei, Männer, die schrien und auf den Tisch schlugen, Erschöpfung, kein Essen, kein Schlaf, immer wieder dieselben Fragen. Noch einmal. Fangen wir von vorn an. Wie war das, Gøran?
Die Beine gaben unter ihm nach. Er drehte sich um und schaute über den Flur zurück. Noch mehr Polizisten. Die sind bei der Arbeit, dachte er. Telefone klingelten. Bald würde das ganze Land wissen, was hier passiert. Radio und Fernsehen würden es erwähnen. Nach Sendeschluß würde es als weißer Textstreifen unter dem Testbild stehen. Gøran wußte nicht, daß drei Beamte in diesem Moment in seinem Zimmer Schubladen und Schränke durchsuchten. Jedes einzelne Kleidungsstück, jedes Paar Stiefel oder Schuhe wurde in weiße Plastiktüten gesteckt. Sein ganzes Leben verschwand durch die Tür seines Elternhauses. Seine Mutter war hinter das Haus gestürzt, und dort stand sie nun vor der Eiche, wie zum Gebet. Der Vater hielt wie ein Soldat auf der Treppe Wache und starrte alle Vorüberkommenden wütend an. Sie liefen in den Keller und durchwühlten die schmutzige Wäsche. Sie gingen die Post in der Küche durch, obwohl er nie welche bekam. Abgesehen von der Gehaltsabrechnung zu jedem Monatsersten. Er hielt Ausschau nach dem Anwalt, wußte aber nicht, wie der aussah. Als der Anwalt endlich auftauchte, verlor er den Mut. Es war ein schmächtiger Mann mit grauen Haaren und altmodischer Brille. In einem tristen grauen Anzug. Mit einer dicken Aktentasche unter dem Arm. Er sah so aus, als habe er zuviel zu tun und esse und schlafe deshalb zu wenig. Zum Trainieren blieb auf jeden Fall keine Zeit, er hat ja dünnere Oberarme als Ulla, dachte Gøran, als der Mann sich das Jackett auszog. Sie wurden in ein Zimmer geführt und dort allein gelassen. Gøran versuchte, sich zu entspannen.
»Geht es dir so weit gut?« fragte der Anwalt und öffnete seine Aktentasche.
»Ja«, sagte Gøran.
»Brauchst du etwas, zu essen, zu trinken?«
»Eine Cola wäre nett.«
Der Mann öffnete die Tür und bat um eine Cola. »Eisgekühlt«, fügte er hinzu. »Ich heiße Robert Friis«, sagte er dann. »Du kannst mich Robert nennen.«
Sein Händedruck war trocken und energisch.
»Als erstes. Ehe wir über andere Dinge reden. Du hast alle Schuld in Verbindung mit dem Mord an Poona Bai abgestritten. Stimmt das?«
»Hä?« fragte Gøran, der den fremdartigen Namen nicht verstanden hatte.
»Die Frau draußen auf Hvitemoen war Inderin. Sie hieß Poona Bai.«
»Ich bin unschuldig«, sagte Gøran rasch.
»Weißt du überhaupt etwas über diesen Mord, oder über den Täter?«
»Nein.«
»Hattest du irgend etwas in der Nähe des Tatortes zu tun und kannst deshalb dort persönliche Habseligkeiten oder etwas anderes verloren haben?«
Gøran fuhr sich über die Stirn. »Nein«, sagte er.
Die ganze Zeit starrte Friis ihm in die Augen.
»Dann ist es meine Aufgabe zu verhindern, daß du verurteilt wirst«, erklärte er. »Und deshalb ist es von größter Bedeutung, daß du mir alles erzählst und nichts verschweigst, was der Staatsanwalt dann später aus dem Ärmel ziehen kann.«
Gøran musterte ihn unsicher.
»Ich habe nichts zu verbergen«, sagte er mit fester Stimme.
»Gut«, sagte Friis. »Aber es kann Dinge geben, die dir im Moment entfallen sind, und die dir dann später wieder einfallen. Erzähl mir alles sofort, wenn du dich daran erinnerst. Du kannst jederzeit mit mir sprechen. Dieses Recht solltest du wahrnehmen. Ich arbeite im Moment zwar an mehreren Fällen, aber wenn es sein muß, dann schaffe ich ungeheuer viel.«
»Ich habe
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