Konrad Sejer 05 - Stumme Schreie
SCHULD,
fragte Linda sich. Aber es machte ihr nicht sehr zu schaffen. Sie konnten Gøran einbuchten, oder Nudel oder Mode oder wen auch immer, ihr war das doch egal. Sie legte sich ins Bett, schützte grauenhafte Kopfschmerzen vor, ihre Mutter konnte sie nicht dazu überreden, in die Schule zu gehen. Sie lag im Bett, starrte die Spinne an der Decke an und aß fast nichts. Sie fühlte sich wunderbar schwach und glaubte oft zu träumen. Die Mutter setzte sich in ihren Lastwagen und fuhr los. Sie wußte nicht, daß Linda aufstand und zu Gunwalds Laden fuhr, um Zeitungen zu kaufen. Es wurde noch immer über den Fall berichtet, vor allem jetzt, wo Gøran festgenommen worden war. Aber Gøran hatte es doch nicht getan. Der Mann im Schuppen war viel größer gewesen. Und hatte eine andere Stimme gehabt. Deshalb mußten sie Gøran wieder laufen lassen. Vielleicht würde er sich an ihr rächen, weil sie das mit dem Auto gesagt hatte. Aber sie hatte nicht einmal mehr Kraft genug, um sich zu fürchten. Während der langen Stunden im Bett träumte sie vor sich hin. In Gedanken war sie von einem grausamen und zynischen Verbrecher entführt worden. Sie wurde in einem unheimlichen Haus festgehalten, während Jacob sich mit geladener Waffe durch die Hintertür schlich und sie unter Gefahr für sein eigenes Leben befreite. Es gab verschiedene Varianten dieses Traums. Manchmal wurde Jacob angeschossen, und sie mußte seinen Kopf auf ihren Schoß nehmen und ihm das Blut von der Schläfe wischen. Manchmal wurde sie selber verletzt. Dann rief er immer wieder ihren Namen. Wiegte sie. Legte ihr die Hand aufs Herz, versuchte, sie zurück ins Leben zu rufen. Sie variierte dieses Thema bis ins Unendliche und bekam es nie satt. Sie hätte gern gewußt, ob Jacob eine eigene Waffe besaß, oder ob er nur ab und zu eine von der Wache benutzen durfte. Ob es möglich wäre, eine Waffe zu besorgen, um sich zu schützen. Man wußte schließlich nie. Und wenn Gøran freigelassen wurde … Sie schloß die Augen. Ihr Nacken tat weh. Und ihr Rücken auch, vom langen Liegen. Fast mochte sie diese Schmerzen, ließ sich gern von etwas quälen. Sie lag ganz still da und litt um ihre große Liebe.
ZU JEDEM MENSCHEN GIBT ES EINEN ZUGANG.
Und den muß ich finden, dachte Sejer. Die verletzliche Seele, die sich in dem verhärteten Körper verbirgt. Er konnte nicht einfach drauflostrampeln. Er mußte einen Punkt erreichen, an dem Gøran ihn selber hereinbat. Und das würde Zeit brauchen.
Während er sich dem Zimmer näherte, in dem Gøran wartete, dachte er an Kollberg. Der frisch operiert und aus der Narkose erwacht war. Aber der sich nicht auf den Beinen halten konnte.
Gøran saß zusammengekrümmt auf seinem Stuhl.
»Und jetzt zu uns«, sagte Sejer lächelnd. Er lächelte selten, aber das wußte Gøran nicht. Auf dem Tisch standen Mineralwasser und Cola. Es war eigentlich ein gemütliches Zimmer, mit angenehmer Beleuchtung und bequemen Stühlen.
»Ehe wir unser Gespräch beginnen, möchte ich folgendes sagen.«
Sejer sah ihn an.
»Du hast Anspruch darauf, daß während des gesamten Verhörs jemand anwesend ist. Friis zum Beispiel. Du hast Anspruch auf Ruhe, wenn du müde bist. Auf Essen und Trinken, wenn du das brauchst. Wenn du das Verhör unterbrechen willst, kannst du jederzeit diesen Raum verlassen und in deine Zelle zurückkehren. Verstehst du, was ich sage?«
»Ja«, sagte Gøran, überrascht darüber, daß er so viele Rechte hatte.
»Verstehst du dich gut mit Friis?« fragte Sejer. Freundlich, dachte Gøran, fast väterlich. Er will Vertrauen erwecken. Er ist der Feind. Atmen, dachte er. Eins, zwei, drei.
»Ich habe kaum Vergleichsmöglichkeiten. Ich habe noch nie einen Anwalt gebraucht.«
»Friis ist gut, nur, damit du’s weißt. Du bist ein junger Mann mit vielen Möglichkeiten, deshalb bekommst du das Beste. Es kostet dich nicht einmal etwas. Andere bezahlen für dich.«
»Sie meinen, die Steuerzahler«, fragte Gøran plötzlich ironisch. Er vergaß zu atmen.
»Richtig«, sagte Sejer. »Das bedeutet, daß wir in einem Rechtsstaat leben.«
»Wenn das hier ein Rechtsstaat ist, dann bin ich heute abend wieder auf freiem Fuß«, sagte Gøran. »Daß ich Ihnen etwas verschwiegen habe, bedeutet nicht, daß ich diese Frau umgebracht habe.«
»Was bedeutet es denn sonst?« fragte Sejer.
Gøran dachte an Lillian. »Ich war so blöd, daß ich eine verheiratete Frau beschützen wollte«, sagte er verbittert. »Ich hätte sofort sagen
Weitere Kostenlose Bücher