Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
allen voran Action-Filme, Werbung und Musikvideos. Große Aufmerksamkeit erregte so der Dokumentarfilm
Jump London
(2003), der in den Hintergrund der Disziplin einführt und darin gipfelt, dass Sébastien Foucan und andere prominente französische
Traceure ihre Begabungen an weltbekannten Londoner Bauwerken zur Schau stellen. Im Sog dieses Kultfilms verstand es die Musikindustrie,
ein Bild roher und ungebremster Urbanität über die Bewegungskunst von Free Running zu vermitteln: Von David Guetta versus
The Egg (
Love Don’t Let Me Go/Walking Away
), über Eric Prydz versus Floyd (
Proper Education
), bis zu Jean-Michel Jarre (
Teo &
Tea
) reicht die Palette an Musikvideos, die sich Parkour bedienen. Eine über das Räumliche hinaus wirkende Grenzenlosigkeit,
die Free Running propagiert, hat nicht zuletzt auch Pop-Ikone Madonna dazu inspiriert, in ihrem Video
Hung Up
(2005) durch eine Kombination der Krumping-Szene in Los Angeles, klassischem Tanz und Bewegungsfiguren von Parkour erneut
die Grenzen von urbanen Tanzkulturen zu sprengen. Ihre weltweite
Confessions
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Tour
(2006) dominierten Tanznummern mit choreographierten Free Running Stunts, und Sébastien Foucan selbst wurde engagiert, live
auf der Bühne aufzutreten. Der Ausdruck seiner Bewegungen geriet auf ähnliche Weise in den Vordergrund der Bühnenshow, wie
Willi Ninjas Voguing zu Madonnas
Vogue
in den frühen neunziger Jahren. Im zeitlichen Abstand von beinahe zwei Jahrzehnten liefern beide Produktionen einen symbolischen
Raum für die Aufführung einer phantasmatischen Transformation: Wie Judith Butler in Bezug auf Willi Ninjas Rolle bei den Drag
Balls in Harlem (New York) in
Bodies That Matter
(1993) argumentiert hat, konstituiert eine performative Widerspiegelung der Imitationsstruktur hegemonialer Bezeichnungssysteme
den Ort der Erlösung von sozialer Stigmatisierung. In dieser Aufführung bildet sich ein Subjekt, »founded in the project of
mastery that compels and disrupts its own repetitions, […] constituted in and through the iterability of its performance.«
(Butler 1993: 131)
Abbildungen 1 und 2: Videostills aus: Proper Education
(Quelle: http://www.youtube.com/watch?v=nLiaX5rrCSU, 17.06.2008)
Sébastien Foucan erzeugt wie Willi Ninja ein Gefüge an symbolischen Schauplätzen der Selbstüberwindung, die den bestehenden
Mechanismen sozialer Machtverteilung durchaus dienlich sind – einer Verteilung an urbanen Benachteiligungen in Bezug auf soziale
Klassen und ethnische Herkunft in den umkämpften Randgebieten städtischer Agglomerationen, in denen die Bewegung von Parkour
entstanden ist. Die zunehmende Angleichung der Traceure an die übermenschlichen Charaktere von Science-Fiction-Erzählungen
des 20. Jahrhunderts und die post-humanen Figuren in virtuellen Genres des 21. Jahrhunderts verwandelt den sozial, ethnisch
und sexuell gezeichneten Körper in einen symbolischen Ort der Bewältigung. Mit
entgrenzter
Körperlichkeit und Tropen der Transfiguration vermittelt er geradezu glaubhaft die Perspektive, dass die globale Verformung
der zeitgenössischen Stadtlandschaft mühelos ertragbar und bewältigbar ist, |264| geht es bei Parkour doch darum, mit dem vorhandenen Umfeld zurechtzukommen. Während die Aufführung der Überschreitung von
Geschlechtergrenzen für Voguers wie Willi Ninja ein Vehikel zur Artikulation der Verbindung von Rasse und sozialer Schicht
boten, fungiert die körperliche Überwindung von Hürden als Vehikel für die Umwandlung dieser Verbindung in eine neue Dimension
städtischen Lebens. Um als Ort dieser Reartikulierung zu dienen, wird die Materialität von Stadt in einen symbolischen Raum
an Hindernissen umgedeutet: Free Runner gleiten schwerelos von Dach zu Dach, zum Trotz der schweren Bürden, mit denen ihre
Existenz an den Rändern der Stadt behaftet ist. Bleibt zu fragen, ob die bei Free Running erworbenen Problemlösungsfähigkeiten
auch wirklich ermächtigend auf das Alltagsleben zurückwirken.
Reale und virtuelle Treffpunkte
Free Running entwickelte und verbreitete sich in einer Atmosphäre zunehmender sozialer Deregulierung und Fragmentierung, in
einem Klima der Arbeitslosigkeit und Unruhe im Gebiet der Pariser Banlieues. Hier, im Vorort Lisses, experimentierten in den
späten achtziger Jahren David Belle und Sébastien Foucan mit Bewegungsformen, die urbane Trendsportarten mit Gymnastik und
Kampfkunst kombinierten. Die Inspiration dazu stammte aus vielen
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