Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
Nibelungen
inszenierte. Für das angestammte, zu großen Teilen aus bewährten Wagnerianern bestehende Publikum ist die Premiere ein einziges
Schockerlebnis. Auch im Verlauf der Folgeaufführungen ereignen sich noch im Festspielhaus Protestaktionen und Trillerpfeifenkonzerte,
Flugblätter werden geschmissen, spätestens in den Pausen kommt es zu Schlägereien. Es werden Unterschriftenlisten gegen die
Inszenierung ausgelegt. Wagnerianer gründen eine Bürgerinitiative, die mit Nachdruck gegen Chéreaus Interpretation interveniert
und »Werkschutz für Wotan« fordert.
»Letzte Woche wurde der Bayreuther Wagner-Tempel tatsächlich zum Tollhaus, die Festspielgemeinde zum grölenden Mob. Schrill
wie nie zuvor geiferten auf dem Grünen Hügel alte Kameraden und junge Pilger, Deutsche, Amerikaner und Franzosen unisono gegen
Bayreuths Jubiläumsausgabe: eine Neuinszenierung des ›Ring des Nibelungen‹, für dessen Uraufführung Richard Wagner seine Gralsburg
vor 100 Jahren gebaut hatte. Schon nach dem ›Rheingold‹, dem ›Vorabend‹ zum Götter- und Germanenkoloss, gellte ein hundertfacher
Wutschrei der Altwagnerianer durch ihr Heiligtum. Nach der ›Walküre‹ verstärkten Trillerpfeifer den Protestchor zum Tumult.
Beim ›Siegfried‹ platzten Pfeiftöne schon mitten in die Aufführung, die ›Götterdämmerung‹ versank vollends mit Rabauken und
Trompeten. Zu Beginn des dritten Aktes brüllten die Radaubrüder: ›Vorhang runter‹. Vor den Fernsehkameras, die im Foyer des
Festspielhauses eigentlich Jubiläumsstimmung einfangen sollten, spuckte Bayreuths Stammkundschaft Gift und Galle gegen die
entartete Kunst: ›Ein Kasperltheater‹, ›brutale Vergewaltigung‹, ›der Wagner, der Richard, dreht sich im Grabe um‹. […] Erstmals
in der Bayreuther Geschichte stand auf dem Grünen Hügel ein Buhmann, dem die Teutonen im Publikum – am Ende der Tetralogie
deutlich die Mehrheit – fortissimo den Krieg erklärten: Patrice Chéreau, 31, laut Frankfurter Rundschau ›Frankreichs genialstes
Theaterkind‹, laut Bayreuther Zwischenrufen ein ›Idiot‹, ein ›Wirrkopf‹, ›ein Schwein‹.« (N.N. 1976: 106)
Vier Sommerpartys später, anlässlich des letzten Chéreau-Rings im Rahmen der Festspiele 1980, hat die aufgrund der Jahre im
Voraus gebuchten Karten in großen Teilen identische Guerilla ihr zuvor vernichtendes Urteil überwiegend revidiert. Inzwischen
wird Chéreau als Schöpfer des »Jahrhundertrings« gefeiert. Ungeachtet dessen aktivieren weiterhin auch jene ihre Foren, die
ihrem
Wagner und ihrer Ablehnung die Treue halten. |280|
»Bayreuths inzwischen verstorbene Hohe Frau Winifried Wagner hatte vor vier Jahren Götterdämmerung über den Grünen Hügel beschworen:
›Jetzt sind wahrhaft die Irren los.‹ Gemeint war nicht das Publikum, das die Jubiläumsinszenierung des ›Ring‹ mit Trillerpfeifen
bedacht hatte, sondern jenes französische Quartett, das für die Neudeutung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks verantwortlich
zeichnete. Was für Patrice Chéreau, Pierre Boulez, Richard Peduzzi [Bühnenbild] und Jacques Schmidt [Kostüme] so mit einem
Eklat begann, endete vergangenen Montag im Triumph: Nach dem letzten Akt der ›Götterdämmerung‹ jubelte das Publikum 85 Minuten
lang und erzwang 101 Vorhänge – ein Rekord für Wagners heilige Halle. Auf seine Weise bedankte sich das Häuflein der Altwagnerianer
in einer Anzeige des ›Nordbayerischen Kuriers‹ beim ›Künstlerpaar Boulez-Chereau‹, dem es‚ ohne Interesse und Verständnis
für Wagners Musik ›gelungen‹ sei, ›den Ring auf die glorreichen Höhen unseres Zeitgeistes zu heben‹.« (N.N. 1980: 200)
Ähnliche Rezensionsabgleiche lassen sich anstandslos auch zum
Parsifal
Schlingensiefs erstellen. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen:
»Christoph Schlingensief hat am Freitagabend nach einer Aufführung seiner ›Parsifal‹-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen
Schläge angedroht bekommen. Einer der Festspielbesucher habe ihm auf die Schulter geboxt und von ›Fresse polieren‹ gesprochen,
berichtete Schlingensief. Die Aufführung sei wieder mit Beifall und Buhrufen aufgenommen worden, einhelligen Jubel habe es
diesmal für die Sänger gegeben. Bei einem Teil des Publikums habe er jedoch eine erschreckend aggressive Stimmung feststellen
müssen, so Schlingensief. Es sei bemerkenswert, ›dass Menschen, die sich Opernfreunde nennen, einem in die Fresse hauen
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