Konsumguerilla - Widerstand gegen Massenkultur
die von geringem Zuschauerinteresse
und daraus folgenden finanziellen Schwierigkeiten geprägt waren, sondern aus der Zeit des sogenannten
Neu-Bayreuths
, das sich seit Anfang der fünfziger Jahre, also mit Beginn der Wirtschaftswunderzeit, zu einem hochkulturellen und hochgesellschaftlichen
Event entwickelt hat. Seinen alljährlichen Höhepunkt erlebt das Sangesparadies bis heute in Gestalt einer mehrwöchigen, groß
angelegten Sommerparty, die ihrerseits und buchstäblich ganz im Zeichen des Gesamtkunstgiganten steht. Ob nun Bayreuth in
Oberfranken |272| oder Huntington Beach, California –
it ś always the real thing
. Beide Phänomene ließen sich mit der Jean Baudrillard eigenen »Agonie« (Baudrillard 1978) und einigen Zitaten zur Simulation
binnen weniger Sätze unter dem Postmoderne-Etikett elegant dekonstruieren (vgl. ebd.: 24–26). Doch so einfach ist es eben
nicht. Also können wir es uns auch nicht so einfach machen.
Bayreuth, Wagner und Wagnerianer, die hier zum Ausgangspunkt einiger basaler Gedanken zu einer Typologie des Konsums von Kultur 1 werden sollen, haben eine ganz eigene Form des Situationismus entfaltet. Ende der fünfziger Jahre vor allem von Guy Debord
beschrieben, erfuhr diese zur Lebenshaltung ausgerufene Bewegung während der Pariser Unruhen im Mai 1968 ihren zweiten Frühling.
Der westliche Bürger, so eine ihrer Kernforderungen, solle sich endlich seiner Rolle als Konsument bewusst werden, mehr noch
solle er aus der Passivität des Verbrauchers heraustreten, sich aktiv und um der Bewusstwerdung seines existenziellen Faktors
Willen in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse einmischen. Das entspricht dem Bayreuth der Wagnerianer und Opernfetischisten.
Was wir hier beschreiben, ist also nicht die »Gesellschaft des Spektakels« (Debord 1996). Was wir beschreiben, ist gerade
der Versuch, sich gegen diese zur Wehr zu setzen – mit zum Teil spektakulären Mitteln, oder mit Debord: »Das Spektakel vereinigt
das Getrennte, aber nur als Getrenntes.« (1996: 26) Unser vorläufiges Ziel soll es sein, den wenn auch noch jungen, so doch
politisch wie ästhetisch schon wieder etikettierten Begriff der Konsumguerilla vorab zu entmystifizieren, damit ihm nicht
die gleiche Verklärung zum Mythos widerfährt wie diversen Guerillas zuvor. Diese Entmystifizierung geschieht am Beispiel des
einschlägigen Bayreuther Publikums, vor allem den Wagnerianern |273| . 2 Der Guerillabegriff soll auf jene angewendet werden, die sich als werk- und werttreu, als politisch wie künstlerisch traditionell
bis konservativ verstanden wissen wollen. Guerillatum ist kein Vorrecht derer, die ein wie auch immer geartetes System stören
wollen (als historisch-theoretisierenden Überblick zu Guerilla und Gesellschaft vgl. Kastner 2007 und Kleiner 2006: 361–393).
Guerillatum ist genauso auf Seiten derer zu finden, die das System stabilisieren, die die vermeintlichen Systemstörer stören
wollen; dies umso mehr dort, wo es um ungestörten Konsum geht.
Subversiver Applaus als Kommunikationsstrategie
Auf eigenartige Weise erscheint es naheliegend, Bayreuth und die Festspiele als ein Mekka derer darzustellen, die dem vorliegenden
Band seinen Titel geben. Es geht also gewissermaßen um eine Abweichung von der erwartbaren und systematischen Nutzung des
Guerillabegriffs. Eingangs ist es nötig, den Begriff der Konsumguerilla in dem Sinn zu erklären, in dem er hier gebraucht
sein soll. Allem voran bedeutet dies, den generell gültigen Begriff der Guerilla zu entkräften und neu aufzuladen, ihn schlichtweg
in sein Gegenteil zu verkehren. Eine Form der Affirmation, wie sie den Guerillas, wie wir sie kennen, ja sehr ähnelt. Eine
Affirmation der Affirmation, weshalb auch wir uns zugunsten unseres Spagats Alain Badiou (2007: 39) auf die Fahnen schreiben
und »daran festhalten, dass eine kleine Affirmation mehr wert ist als eine große Negation«. Mit dieser Verkehrung einher geht
eine entschiedene Entpolitisierung, auch Entästhetisierung des Begriffs. Er soll jedoch nicht zurechtgelegt, sondern an seiner
Wurzel gepackt und in seiner bisherigen Verwendung infrage gestellt werden. Dann erst ist |274| die Konsumguerilla tatsächlich in Bayreuth angekommen, in der vermeintlichen Hochkultur, dort, wo sie keiner erwartet hat. 3 Dies geschieht in drei Schritten: Erstens, indem wir die Missverständnisse benennen, aus denen sich die in der Achtundsechzigerbewegung
begründeten
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