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Kontaktversuche

Kontaktversuche

Titel: Kontaktversuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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wenn sie nicht einen albernen Strich in die Winkel ihrer dümmlichen Augen gemacht hätte. Wie immer zu dieser Zeit spitzte Dortschew seine Bleistifte mit der leidenschaftlichen Pedanterie eines frischgebackenen Konstrukteurs nicht mit der Bleistiftspitzmaschine, sondern mit einer Rasierklinge an. Dortschew mochte Petrow nicht, und ich hörte ihn bürokratisch trocken sagen: »Zu wem wollen Sie schön so früh, Kollege?«
    Die Lekowa stieß einen Schrei aus. Bevor sie den Stift fallen ließ, zog sie den Strich bis hin zu ihrem rosa Öhrchen, das mich mehr als einmal in Versuchung geführt hatte hineinzubeißen, und schrie noch einmal auf.
    »Petrow? Peter?« ächzte nunmehr Dortschew, ich sprang wegen der mir eigenen verzögerten Reflexe erst jetzt vom Fensterbrett und fragte ebenfalls: »Bist du das, Peter?« Aber die Zeitung raschelte derart in meinen Händen, daß ich mich selbst nicht hörte.
    Die Lekowa hielt die Hände mit gespreizten Fingern vors Gesicht, dahinter kam mit langgezogenen Tönen ihr dünn gewordenes Stimmchen hervor: »Petjooo, Petenzeee, hast du wirklich…«
    »Was ist denn in euch gefahren?« blubberte Peter Petrow ärgerlich.
Dortschews Bleistifte prasselten auf den Boden, wobei ihre idealen Spitzen abbrachen; er hatte sich auch gleich noch geschnitten, doch bevor er den Finger in den Mund steckte, stöhnte er: »Unmöglich? Nein, nein! Unmöglich!«
Alle drei hatte uns ein stilles Entsetzen gepackt, was uns veranlaßte, die Blicke von Petrow abzuwenden. Wahrscheinlich hielten ihn diese unsere aufrichtig entsetzten Gesichter noch an der Tür fest. Dortschew faßte sich als erster, wenn man das überhaupt so nennen kann.
»Peter«, fragte er, gesammelt auf seinen geschnittenen Finger schauend, »Peter, wo… wo bist du gewesen?«
»Im Wald, Bären jagen«, erwiderte Petrow.
Jetzt fand ich auch die Kraft, mich einzumischen: »Petjo, wir sprechen im Ernst! Haben wir etwa nicht das Recht…« Und ich begann sorgfältig die Zeitung zusammenzufalten, aber sie raschelte dabei, daß es in den Ohren schmerzte.
»Jetzt habt ihr lange genug verrückt gespielt!« schrie mein Freund. »Wo soll ich schon gewesen sein? Zur Arbeit komme ich! Und pünktlich, will mir scheinen, im Unterschied zu manchen anderen…«
Völlig überflüssigerweise hielt er uns die Uhr entgegen. Er kam wirklich pünktlich, und ich könnte mich nicht entsinnen, daß er einmal zu spät gekommen wäre, im Gegensatz zu manchen anderen in unserer wertgeschätzten Dienststelle.
»Ja doch«, sagte ich und wußte nicht, was ich weiter sagen sollte, und Petrow war schon drauf und dran, nun ernsthaft hochzugehen, so daß ich fast hysterisch hervorstotterte: »Ja doch, aber wann?«
»Was denn wann?«
»Ich will sagen…« Und da wurde mir auf einmal klar, daß unser Peter übergeschnappt war, daß er auch wie ein Schizophrener aussah, und meine Stimme wurde dünn wie die der Lekowa: »Ich will sagen, Petjo, weißt du übrigens, welches Datum wir heute haben?«
»Wozu hältst du die Zeitung? Oder glaubst du ihr nicht einmal das Datum?«
Das brachte mich vollends aus dem Konzept. Konnte ein Geistesgestörter so eine Antwort geben, oder aber umgekehrt: Mußte man wirklich verrückt sein, um solche Witze zu machen?
»Ja, ja«, brummte ich, »heute ist der elfte März.« Ich las es ab, indem ich die zusammengefaltete Zeitung umdrehte. »Und welches Jahr?«
»Ihr treibt’s wirklich zu bunt«, sagte Petrow. »Meinen Tisch habt ihr auch verschwinden lassen.«
»Und das da?« Dortschew zog den Finger aus dem Mund und tippte damit an den oberen Rand seiner eigenen Stirn, wo er einen sabbrigen roten Klecks hinterließ.
Petrow faßte sich in einer Reflexbewegung an den Kopf und fragte mit unbeschreiblicher Überraschung: »Was ist denn das?«
»Das wirst du uns sagen!« erwiderte Dortschew.
»Ich begreife nicht…«, begann Petrow und verstummte.
»Und wir?« begann ich und verstummte ebenfalls.
»Aber das ist… das ist ja… Haar!« Das letzte Wort sprach er geradezu ängstlich aus.
Na komm! hätte ich am liebsten lachend gesagt, denn das war kein Haar, was da den bislang kahlen Schädel unseres Petrow bedeckte, sondern eine Narrenperücke. Aber ich getraute mich nicht, es zu sagen.
Er hatte vorsichtig eine Strähne davon zwischen die Finger genommen, zog mit einem Ruck daran, und entgegen unseren Erwartungen ging sie nicht ab, die Perücke saß fest. Petrow nahm die zweite Hand zu Hilfe. Er packte die nach allen Seiten abstehenden orangegelben,

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