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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Albahari
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bedeuten für jemanden, der allem entkommen will, aber nicht für einen, der sein Vaterland verteidigt, oder? Hier müssen wir aber unterbrechen, denn niemand kann sicher sein, dass wir uns wirklich in unserem Vaterland befinden. Seit wir nur verschiedene Teile des vereinigten Kontinents geworden sind, ist die Verteidigung des Vaterlandes bestenfalls fraglich, weil jeder kleine Teil der Streitkräfte im vereinigten Kontinent irgendwohin entsandt werden und nur noch hoffen kann herauszufinden, was mit dem Teil des vereinigten Ganzen geschieht, der einzig ihm am Herzen liegt. Dies mag gekünstelt und kompliziert klingen, ist aber so. In dem Wunsch, dass alle sich vereinigen und zu einem Ganzen zusammenwachsen sollen, sehen viele den nostalgischen Ruf nach der Wiederherstellung der alten europäischen Königreiche. Europa ist nur groß, wenn es ein einheitliches Reich ist, sagen sie, und der Kommandant nickt fröhlich. Draußen erwartete ihn jedoch eine andere Wirklichkeit, und trotzdem fühlte er sich jetzt erleichtert. Und als ein Soldat mit einer Handgranate auf ihn zukam, lächelte er zunächst und reagierte mit Verzögerung auf die Warnrufe, entriss dem Soldaten die Granate und schleuderte sie mit einer einzigen schwungvollen Bewegung weit weg ins Feld. Plötzlich war er ganz in Schweiß gebadet, weswegen er wohl auch nicht den gedämpften Pistolenschuss hörte, mit dem sich der Handgranaten-Soldat hinter seinem Rücken das Leben nahm. Wie konnte das passieren, fragt sich der Kommandant, wie kann ein gemeiner Soldat, der eingezogen wird, seinem Land zu dienen, sich in eine Maschine zur Vernichtung anderer Menschen verwandeln, nur weil ihm die Kraft fehlt, sich selbst zu vernichten? Während die Soldaten ihm Beifall spendeten, bückte er sich und legte das Ohr an die blutigen Lippen des Mannes. Es tut mir leid, röchelte dieser kaum hörbar, es tut mir wirklich leid. Der Kommandant strich ihm über das Haar, spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, und wusste, es war höchste Zeit, sich aufzurichten und dadurch seine Empörung über die selbstmörderische Praxis zu zeigen, die die Ohnmacht eines Einzelnen oder einer Organisation in ein Massaker an unschuldigen Bürgern verwandelt, unter denen es, was das größte Paradox ist, bestimmt auch solche gibt, die die Ansichten der verrückten Selbstmörder teilen. Der Kommandant richtete sich auf, und der Beifall ging in ein hysterisches Skandieren über, der Kommandant war jetzt doch zu Tränen gerührt, aber egal, man würde sie für Freudentränen halten, was eigentlich, dachte der Kommandant, die größte Dummheit wäre. Weinen ist immer Weinen, da gibt es keinen großen Unterschied, vor allem, wenn der Grund eine Depression ist. Der Kommandant glaubte nämlich, dass er seit einigen Jahren an einer tiefen Depression litt, und die Tatsache, dass viele Symptome der Depression sich mit denen der Parkinsonkrankheit decken, stürzte ihn in noch tiefere Depression. Aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um über den Gesundheitszustand zu reden, jetzt ist Krieg, und die Gesundheit ganz sicher nicht unsere erste Sorge, obwohl es dumm ist, die Tatsache zu ignorieren, dass gerade diese Zeit sich außerordentlich dazu eignet, die Substanz der gesamten Bevölkerung zu reduzieren, die in den letzten Jahrzehnten die Tendenz zu ständigem Wachstum aufwies. Wie entsetzlich doch diese aufgeblasene Sprache der Politik und der Statistik ist, recht haben die Soldaten, wenn sie sich beschweren. Die Kommandosprache muss einfach, für alle klar und verständlich und doch ein wenig geheimnisvoll sein. Eine Sprache, die kein Geheimnis in sich birgt, ist keine gute Sprache. Eine Sprache erobert uns, indem sie in uns den Wunsch weckt, sie zu erobern, was der Sprache, die über unseren Funk erklang, nicht von der Hand ging, oder genauer gesagt, vom Mund, denn die Sprache ist Mund und ein wenig Nase und ein wenig Kehle. Aber auch ein wenig Bauch, das muss man zugeben, vor allem wenn es um die japanische Sprache geht, obwohl uns, die wir kein Japanisch sprechen, das vielleicht nur so scheint. Wenn Sie sich allerdings einen Film von Akira Kurosawa anschauen, werden Sie merken, dass sämtliche Schauspieler ihre Repliken irgendwo im Bauch beginnen lassen, vor allem wenn sie düstere Gedanken aussprechen und so klingen, als wüssten sie von vornherein, dass sie danach keine Kraft mehr für irgendetwas anderes haben würden. Meistens haben sie sie auch nicht, als seien sie Geschöpfe

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