Kontrollverlust - Kontrollverlust
königliche Trauer schien sich im martialischen Feuerwerk buchstäblich in Pulverdampf aufzulösen – über ein Jahrzehnt der Spannungen und Mißtöne zwischen beiden Staaten diesseits und jenseits des Großen Teiches waren gleichsam niedergemäht.
Cody ließ sich nach der Show, ohne Scheu vor Pathos und großen Worten, folgendermaßen vernehmen:
»We felt that the hatchet was buried and that the Wild West had been the funeral. «
Auf Wunsch der Königin gab Cody in Earl’s Court eine weitere Vorstellung, diesmal vor dem versammelten europäischen Hochadel, unter anderen die Herrscher von Belgien, Griechenland und Dänemark – und Wilhelm dem Zweiten, dem zukünftigen Deutschen Kaiser und König von Preußen.
Vor überschäumender Begeisterung, so wird kolportiert, habe sich Wilhelm zusammen mit einigen anderen Majestäten nach dem Showdown von Cody überreden lassen, auf der Postkutsche einige versprengte Indianer durch die Arena zu jagen.
So war Codys Rezept wieder einmal aufgegangen. Er fegte diplomatischen Zwist und kulturelle Animositäten mit archaischen Ritualen hinweg. Die Zutaten für das Patentrezept waren so einfach wie wohlschmeckend: unschuldige Siedler, mutige Soldaten, blutrünstige Indianer, mächtige, feuerspuckende Waffen. Zivilisierte gegen Wilde – das war der Minimalkonsens, der überall funktionierte. Codys Konzept basierte auf Reduktion. Er war intelligent genug zu wissen, welche Klischeevorstellungen über den nordamerikanischen ›Wilden Westen‹ vorherrschten, und nichts lag ihm ferner, als durch Differenzierung und Realitätsnähe Unruhe und Verwirrung in den Köpfen zu stiften. Er operierte bereits nach den KISS-Prinzipien – Keep it simple and stupid . Er gab den Menschen, was sie wollten.
Mit den Erfolgen in Earl’s Court hatte Cody einen Brückenkopf auf der Insel erobert, von dem aus er den Kontinent einnehmen würde. Großbritannien war nur der grandiose Auftakt für eine mehrjährige Europatournee der Wild-West-Show, die Buffalo Bill, seine Cowboys, seine Indianer und seine feuerspuckenden Waffen durch Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland führte.
William F. Cody hatte mit seiner Show das Herz Amerikas nach Europa gebracht, es schlug kräftig, schnell und laut, im Rhythmus einer Gatling Gun. Und es schlug auch im südhessischen Darmstadt.
12
Schreibblockade. Rünz steckte mit seinem Vince-Stark-Plot in der Sackgasse. Der Killer hatte die Jungfrau in dem Gewölbekeller unter dem Hochzeitsturm gemeuchelt, Stark war Sekunden zu spät am Tatort erschienen. Ein Schuldkomplex – die ideale moralische Ausgangsposition für einen gnadenlosen Rachefeldzug des Agenten. Aber jetzt ging plötzlich nichts mehr, selbst erhebliche Mengen Pfungstädter Märzen brachten die Ideenquelle nicht zum Sprudeln.
Er hatte keine Einfälle mehr, und alles, was er bereits geschrieben hatte, erschien ihm haarsträubend banal und reißerisch. Sicher, es würde ausreichen, um die weltweite Thriller-Fangemeinde zu erobern, aber er wollte einfach mehr. Er wollte in Klagenfurt antreten, vom Feuilleton auf Händen getragen und auf Lesungen von zarten, achtzehnjährigen Germanistikstudentinnen angeschmachtet werden. Kurzum – sein Anspruch an sein Romandebüt war nicht weniger als die eierlegende Wollmilchsau in 10-Punkt-Garamond. Und was seinem actionreichen Plot zur höheren literarischen Weihe noch fehlte, war die existenzielle Tiefe, das Leiden am Dasein, die seelische Deformation des Individuums. Schnaubend stampfte er in seinem Arbeitszimmer auf und ab, raufte sich die Haare und versuchte sich einzureden, dass alle begnadeten Autoren solche kreativen Tiefs durchmachten, bis sie irgendwann wieder von der Muse geküsst wurden.
Aber wie sollte man sich konzentrieren bei diesem andauernden Gewispere in der Küche. Was suchte Janine überhaupt hier, sie hatte ihn und seine Frau noch nie besucht. Seit zwei Stunden ging das schon so, eins dieser unsäglichen Frauengespräche:
›Also dann hat er zu mir gesagt …‹ – ›Nein! Das glaub ich nicht!‹ – ›Doch, wenn ich’s dir doch sage! Da hab ich zu ihm gesagt …‹ – ›Richtig! Genau richtig! Das musst du dir von ihm nicht bieten lassen.‹ – ›Eben. Mit mir nicht. Nicht mit mir!‹ – ›Und? Wie hat er reagiert?‹
Seit Stunden ging das so, ohne Ermüdungserscheinungen. Kommunikation zwischen Männern glich dem effizienten Abgleich zweier Datenbanken mit dem Ziel, beide auf den gleichen Informationsstand
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