Kontrollverlust - Kontrollverlust
zu hieven. Bei Frauen hatte Kommunikation kein Ziel, sie war Selbstzweck.
Außerdem hatte Rünz nie verstanden, warum sich Frauen über ihre wortkargen und schweigsamen Partner aufregten. Frauen diskutierten grundsätzlich alles, was man ihnen als Ehemann oder Partner anvertraute, mit ihren Freundinnen. Wenn man sich als Mann also einen Rest von Intimsphäre bewahren wollte, hielt man besser den Mund.
Er öffnete die Tür seines Arbeitszimmers einen Spalt breit, um zu lauschen. Es ging um Klaus, um wen sonst. Janine stammelte in ihrem Unterschichtendeutsch ein endloses Klagelied, dass der Klaus den Kevin so vermissen tut, dass er nur noch in seiner Werkstatt herumschrauben tut und zu viel Geld für komische Sachen ausgeben tut und kein Bier mehr saufen tut. Hatte Rünz da richtig gehört? Sie beschwerte sich darüber, dass ihr Mann nicht mehr soff? Das müsste ihm mal passieren. Rünz’ Frau versuchte ihr mit Erklärungen zu helfen, sprach von Midlifecrisis, verwendete Begriffe wie ›Verdrängung‹ und ›Depression‹. Der Dialog wirkte zeitweise, als würde ein Netzwerkadministrator einem Buschpygmäen die Vorteile eines Linux-Betriebssystems erklären.
Leise schloss der Kommissar die Tür wieder. Herrgott, es war wirklich Zeit, Klaus in eine Männergruppe zu schicken. Aber eigentlich gab es keinen Grund, sich um seinen Schwager Sorgen zu machen. Ein paar Runden auf dem Schießstand und einige Biere im Rühmanns würden ihn wieder aufrichten.
Irgendwie inspirierte ihn Breckers kleines Zwischentief. Er würde einen Protagonisten in seinem Plot einführen, dem das Leben zu viel zugemutet hatte, die ganz normale Vorhölle, die den Mann ab vierzig erwartete. Da war ordentlich Potenzial drin für Drama, Seelenschmerz, Sentiment und Melancholie, dem Zubehör, aus dem große Literatur gebastelt wurde.
Vielleicht konnte der Kommissar auf diesem Weg zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und ein weiteres Manko seines Plots beseitigen. Nach der verstörenden Besprechung mit Hoven war er zur Ablenkung in die Stadt gefahren und hatte zwei Stunden lang in einer Buchhandlung in den aktuellen Bestsellern gestöbert, um sich Inspirationen für sein Manuskript zu beschaffen. Das Ergebnis hatte ihn frustriert. Er haderte mit seiner Geschichte. Bei der vorbereitenden Marktsondierung hatte er völlig den Erfolg skandinavischer Krimiautoren übersehen. Diese blassen, depressiven, einsamen und vom Schicksal gebeutelten Ermittlerfiguren, die in menschenleeren und nebelgeschwängerten subpolaren Nadelwäldern Blutspuren auf schneebedeckten Granitfelsen verfolgten.
Schon sein Pseudonym Raoul Rockwell erschien ihm in dieser Hinsicht plötzlich suboptimal. Aber noch war es ja nicht zu spät für eine Kurskorrektur. Cårl Runssøn klang doch auch nicht übel – und war eigentlich nicht mal ein Pseudonym! Aber darüber konnte er sich später noch Gedanken machen. Er beschloss, wenigstens eine Szene voll auf den Geschmack der Fans all dieser Nesbøs, Edwardsons und Nessers zuzuschneiden. War doch alles nur eine Frage von Verdichtung, Engführung und Bündelung der einschlägigen Motive. Und eine hübsche Gelegenheit, eine interessante Nebenfigur einzuführen.
Hatte Darmstadt nicht sogar irgendeine Partnerstadt da oben am Polarkreis? Wäre doch ein prima Anknüpfungspunkt. Zwei Minuten später hatte er die Sache ausgegoogelt. Trondheim in Norwegen! Fantastisch. Und diese Insel Munkholmen im Trondheimsfjord direkt vor der Stadt – eine Steilvorlage, was die ideale Location für eine knackige Verfolgungsjagd anging. Höchste Zeit also für etwas boreales Lokalkolorit. Rünz köpfte ein weiteres Pfungstädter Märzen, ließ den halben Liter in einem Zug Richtung Leber vergurgeln und haute enthusiasmiert in die Tasten.
Tore Tryggvason lehnte an der kalten Granitmauer der alten Festung. Seit zwei Stunden war er Sverre Svensen auf den Fersen, quer über den zugefrorenen Trondheimsfjord. Aber hier auf der Insel Munkholmen konnte Svensen ihm nicht mehr entkommen. In wenigen Minuten würde er, Tore Tryggvason, Vince Stark anrufen können, ihm mitteilen, dass Delgados Norwegen-Connection ausgehoben war. Tryggvason keuchte, sein Atem bildete kleine Wölkchen in der klirrend kalten Luft. Er verfluchte das ›Biest von Bergen‹, das ihm zehn Jahre zuvor den linken Lungengflügel zerschossen hatte. Hatte sich Tryggvasons Frau danach das Leben genommen, weil sie die Angst nicht mehr ausgehalten hatte? Die Angst davor, ihn nach einem Einsatz
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