Kopernikus 1
habe nicht gesagt, daß es Vater gewesen ist. Ich sagte nur, daß er so aussah wie er.“
Ulf schrie erregt: „Aber Vater ist seit drei Wochen tot! Ihr wart doch dabei, als er starb. Ich nicht!“
„Gunda auch nicht“, korrigierte Olaf.
„Warum habt ihr mich bloß gezwungen, es aus-zu-sprechen?“ schluchzte sie.
„Wein dich nur aus, Mädchen. Wir lassen dich jetzt in Ruhe.“ Olaf schnappte seinem Bruder die Brandyflasche weg und lehnte sie neben Gundas Kopfkissen an die Wand mit dem Schilfteppich.
„Ein Moor-Monster, das wie Vater aussah. Welch rü h rende Familienszene. Und alles wegen dieser Capeila ga l lidingsbums!“ empörte sich Ulf, während ihn Olaf in den Livingroom schob, die Türe hinter sich schloß und sich mit weichen Knien in den nächststehenden Rattansessel fallen ließ. Ulf trat an eines der Fenster und lehnte seine heiße Stirn gegen die Scheibe, die beschlug. Eine Pause des Schweigens entstand … bis Olaf der Gedanke durch den Kopf schoß, ob der Bildumwandler in Gundas Kam e ra nicht einige Aufnahmen gespeichert haben könnte. Doch Ulf machte die Hoffnung seines Bruders zunichte. „Die gleiche Idee hatte ich bereits auf der Rückfahrt im Luftkissen-Rover. Aber auf allen Aufnahmen, die ich von dem erdverschmierten Minibildschirm abrief, waren nur Sumpf, Landschaft und Vögelchen zu sehen. Weder ein Gespenst noch ein Hominide, geschweige denn Vater.“ Den letzten Satz wiederholte er zur Bekräftigung.
Doch so schnell gab sich Olaf nicht geschlagen. „Sag mal, Ulf, ein … intelligentes Wesen hätte Gundas Kam e ra doch sicher verschwinden lassen, wenn es befürchten müßte, durch eine Aufnahme verraten zu werden.“
Ulf wandte sich vom Fenster ab und seinem Bruder zu. „Ein intelligentes Wesen … was soll das heißen?“
„Genau das, was ich gesagt habe.“
Als Ulf die Tragweite dieser Ideenverbindung begriff, wurde er blaß.
Olaf wollte sich den Moorschratt, das lebende Museum s inventar persönlich vorknöpfen. Der kleine Datenbil d schirm in der Verwaltung verriet per Tastendruck Ernst Hümmlings Lebenslauf.
Der Mann arbeitete seit 1990, also seit siebzehn Ja h ren, auf seinem Posten, den er von seinem Vater übe r nommen hatte. Seine Vorväter hatten als Torfstecher einst für die sogenannte Fehngesellschaft und die Torfb a rone schuften müssen.
Der Informationstext lieferte historisches Ergä n zungsmaterial. Olaf kannte es längst auswendig. Vor vierhundert Jahren bestand das Land hier noch zu zwa n zig Prozent aus Mooren. Dann begann die große Zerst ö rung, die Kommerzialisierung durch Kanalisierung und Kultivierung. Hinter Irland und Rußland lag Deutschland dam als auf Platz drei der Welttorf- Produktion. Ein R e kord, auf den keiner stolz zu sein brauchte, wenn man die Zahl der Menschenopfer und das menschliche Elend d a gegen hochrechnete, überlegte Olaf und schaltete den Apparat ab. Dem Professor, seinem Vater, war es zu ve r danken, daß die Reste dieser Urlandschaft bewahrt wu r den.
Mit einem flüchtigen Gefühl der Genugtuung verließ Olaf sein Büro und ging zur Westseite des Museum s komplexes, wo in einem Anbau Hümmlings Behausung lag. Nach telefonischer Voranmeldung wurde er bereits in der ‚guten Stube ’ erwartet, die exakt dem Wohnraum eines alten Bauernhauses nachgebildet war: Relikt und Anschauungsmaterial aus der Zeit der längst verfallenen Moorhaufendörfer, zu gewissen Öffnungszeiten auch für neugierige Besucher zugänglich.
Jetzt herrschte hier Stille. Die Abendsonne beleuchtete das Prunkstück der gesamten Einrichtung, den jahrhu n dertealten Kamin mit der Wand aus hellen Kacheln voller blauer Heimatmotive: Windmühlen, Segelschippern, Fisch- und Vogelmustern. Die schweren Messingb e schläge der Feuerlochumrandung spiegelten blendend die Sonnenstrahlen zurück. In einem handgeflochtenen Korb lagen sauber gestapelte Holzscheite. In der Ecke lehnte ein Heidebesen. Im Zeitalter der Energieinseln, Wasse r stoffbatterien, Gezeiten- und Solarkraftwerke ein mus e umswürdiger Anachronismus. Aber war das nicht die gesamte Landschaft hier mit all ihren Bewohnern und Lebensformen?
Ernst Hümmling saß in seiner grauen Uniform in e i nem geflochtenen Weidensessel auf rot verschossenen Kissen. Olaf begrüßte ihn mit Handschlag und hinderte den alten Mann am Aufstehen. „Bleiben Sie bloß sitzen! Ich freue mich, daß Sie so schnell wieder auf die Beine gekommen sind.“ Alberner Anfang, dachte er.
„In erster Linie war’s wohl der
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